Die Jagd auf die Ungarn

Am 18. April hat das Parlament in Budapest mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit die neue ungarische Verfassung verabschiedet. Am folgenden Tag brach in der europäischen Presse von Großbritannien bis Deutschland große Aufregung aus, die sich teilweise auch auf den diplomatischen Bereich ausweitete. Auch große tschechische Tageszeitungen gesellten sich dazu.

 

Das Hauptproblem bilden die Präambel der Verfassung („nationales Kredo“) sowie der Modus, mit dem die über die Verfassungsmehrheit (was in einem demokratischen Staat eher eine Ausnahmesituation darstellt) verfügende Regierungspartei FIDESZ versucht, ihren Einfluss über die nächsten Parlamentswahlen hinaus "einzubetonieren". Das Opernpathos der ellenlangen Einleitung ist mir ziemlich fremd. Was den zweiten Teil der Vorwürfe betrifft, haben die Kritiker in einer Reihe von Dingen recht. In der entstandenen Situation würde ich allerdings die Fortführung der Kritik als Hyänismus betrachten. Mich interessiert die Kehrseite der Angelegenheit.

In den ausländischen und auch in den hiesigen Artikeln befremdet mich die Unmenge an Sachfehlern. So spricht beispielsweise "Die Welt" von der Bindung der Republik Ungarn an die "Kaiserkrone". An welche, um Gottes willen? In der Zeitschrift  "L´Express" trägt der entsprechende Artikel die Überschrift „Die Ungarn begraben ihre Republik" (Der Staat heißt jetzt Ungarn. Unmittelbar darauf kann man aber in der Verfassung nachlesen, dass es sich bei der Staatsform um eine Republik handelt.). Ebenda wird widersinnig behauptet, Ungarn sei eines der am wenigsten religiösen Länder Europas. In der tschechischen Tageszeitung "Právo" schreibt der Redakteur Hekrdla, FIDESZ habe ihre Verfassung mithilfe der Faschisten aus der rechtsextremen Partei "Jobbik " durchgesetzt (diese stimmten demonstrativ dagegen). Hekrdla nennt Präsident Sólyom einen Mitläufer von FIDESZ-Chef Orbán (Dieser Mensch gehört zu den Kritikern Orbáns und ist schon seit einigen Monaten nicht mehr Staatsoberhaupt, weil FIDESZ sich ein anderes gewählt hat.) Die ungarische Krone verbindet der tschechische Journalist aus unbekannten Gründen mit der Jahreszahl 1222 (das Jahr der Ausgabe der Goldenen Bulle von Ungarn durch König Andreas II.). Sowohl "Právo" als auch "Lidové noviny" übersetzen den ersten Vers der ungarischen Hymne absurd und boshaft als "Gott segne dem Ungar". Die richtige Übersetzung lautet: "Gott segne die Ungarn". Und so weiter und so fort.

Das ist nur eine kleine Illustration der Indolenz. Von Bedeutung ist eine andere Angelegenheit: Aus den in der westlichen Presse erschienen Artikeln geht hervor, dass das zivilisierte Europa hier auf etwas Fremdes und Barbarisches stößt. Sicher, es handelt sich um keine offizielle Stellungnahme der EU, sondern nur um Stimmen aus dem intellektuellen Background. Weil sie in führenden Periodiken erschienen sind, haben sie aber ihre Relevanz. In "Die Welt" schreibt man, es sei angeblich so, als hätte sich die Verwandtschaft aus einem fernen, fremden Land selbst auf eine Party der modernen Europäer eingeladen. Wundert euch also nicht, meine Lieben, wenn ich das auch auf uns Tschechen beziehe. Wir haben uns nicht selbst eingeladen, sondern ihr habt uns aufgenommen. Niemand hat euch gezwungen. Und außerdem waren uns offensichtlich die in dem Artikel so nett formulierten Ambitionen nicht ganz klar. Diesen entströmt ein starker Hauch der Nostalgie, dass es bislang nicht gelungen ist, so etwas wie das einstige Römische Reich zu schaffen, ein jetziges amerikanisches (??!!) und künftig chinesisches. Mit diesem Projekt waren wir im Vorfeld nicht bekannt gemacht worden. Dabei besteht der Stein des Anstoßes u. a. darin, dass in der Präambel der neuen ungarischen Verfassung über das Christentum, das Volk und die traditionelle Familie gesprochen wird ("L´Express" stört sogar die Bezeichnung der Familie als Bund zwischen Mann und Frau). Offenkundig darf man das jetzt im Geist der politischen Korrektheit und des Multikulturalismus nicht mehr. Unter dem totalitären Regime durfte man das bei uns auch nicht. Ihr betrachtet uns als unerwünschte Verwandtschaft. Eine Reihe von uns hat wiederum den zwingenden Eindruck, sie seien in den vergangenen Jahren in ein Irrenhaus aufgenommen worden.

Das Missverständnis ist demnach auf beiden Seiten. Dazu trägt auch der Verdacht bei, dass es dem Westen nicht nur um die Kultivierung von Barbaren geht. Wie ist es denn um Gottes willen möglich, dass der "Nationalismus des 19. Jahrhunderts" im Falle der Ungarn ein derartiger Störfaktor ist, wenn die Tschechische Republik in die EU aufgenommen wurde, obwohl (in Restitutionsstreitfällen angewendete) Gesetze Bestandteil ihrer Rechtsordnung sind, die den Menschen sowohl das Vermögen als auch die Bürgerrechte auf der Grundlage der Kollektivschuld entziehen? Es scheint, dass es Europa eher darum geht, so wenig wie möglich an dem zu rühren, was in Versailles, in Jalta und in Potsdam zusammengebraut wurde. Sicher, es gibt eine Menge Dinge, an denen nicht mehr zu rütteln ist. Ich möchte nur sagen, dass auf der Grundlage der krampfhaften Erhaltung des Status quo nie etwas Anständiges entstanden ist, umso weniger denn ein Imperium der Wahrheit und Liebe. Dabei wurde der europäische New Deal u. a. auf Kosten der Ungarn geschaffen. Warum wundert ihr euch dann, dass ihnen dass nicht gefällt? Überdies wird eine sinnvolle Gesellschaft von Menschen und Völkern u. a. immer auf der Grundlage einer gewissen Toleranz zur Andersartigkeit des Partners erbaut.

Und schlussendlich: In der Zeit des tschechischen "Oppositionsvertrages" der beiden Großparteien ODS und CSSD reisten die Vertreter der Parteien der "nichtvertragsgebundenen Opposition" - die ihres Einflusses auch deshalb verlustig gegangen waren, weil es ihnen nicht gelang, die hinreichende Unterstützung der Öffentlichkeit zu gewinnen - nach Brüssel, um sich dort zu beschweren. Wenn wir die in der medialen Kanonade vom 19. April zitierten ungarischen Namen vergleichen, entledigen wir uns nur schwerlich des Eindrucks, dass die bei den Wahlen katastrophal gescheiterte ungarische Opposition diese Niederlage mit Unterstützung des Drucks der Medien von außen kompensieren will, statt die heimische Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Das ist weder politisch umsichtig, noch anständig.

Die tschechische und die ungarische Gesellschaft haben eines gemeinsam: eine enorme Ladung an Hass zwischen Regierung und Opposition. Es handelt sich um ein Residuum des Bolschewismus. Dabei soll effiziente Politik im Abbau von Hass bestehen. Wo dies nicht gelingt, entsteht Raum für unerwünschte Gevatter von außerhalb. Manchmal laden wir sie sogar selbst ein (die Ungarn Hitler vor dem Zweiten Weltkrieg, die Tschechen Stalin während des Krieges und danach). Die EU ist noch ein verhältnismäßig zivilisierter und im Prinzip auch machtloser Gevatter. In ihrem Umfeld finden sich allerdings auch andere.

Tageszeitung "Lidové noviny", 27. April 2011
Übersetzung Sylvia Janovská