Und wieder die Sudetendeutschen
Die überregionale Prager Tageszeitung "Lidove noviny" hat einen Bericht über eine Initiative von drei tschechischen Bürgern veröffentlicht, die beim Innenministerium einen Registrierungsantrag für die "Sudetendeutsche Landsmannschaft in Böhmen, Mähren und Schlesien" eingereicht hatten. Der Antrag wurde am 12. 8. 2009 einschließlich des Satzungsentwurfs gestellt. Das Innenministerium wies die Registrierung ab und nun hat das Prager Stadtgericht die Entscheidung der Behörde aufgehoben.
Die Angelegenheit hat zwei Ebenen, eine rechtliche und eine politische. Beide hängen zusammen. Zunächst zur rechtlichen:
Zum Stein des Anstoßes wurde der Artikel 3 des Satzungsentwurfes, in dem das Ziel der Vereinigung festgelegt wird. Es soll um die Unterstützung der Völkerverständigung gehen, vor allem zwischen Tschechen und Deutschen, und um die tschechische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Die Vereinigung will sich um die Aufhebung derjenigen Beneš-Dekrete bemühen, die den Boden für die Vertreibung der Sudetendeutschen bereiteten, sowie um die Annullierung des Gesetzes Nr. 115/1946 Slg., welches ungenau "Amnestiegesetz" genannt wird, damit diese Regelungen zumindest pro futuro aufhören, Bestandteil der tschechischen Rechtsordnung zu sein. Die Vereinigung wird sich für die Kompensation des Schadens einsetzen, den die Vertriebenen erlitten haben, und sich um eine Satisfaktion für die immateriellen Einbußen sowie um die Erteilung der tschechischen Staatsbürgerschaft für diejenigen bemühen, die daran Interesse haben werden. Die Antragsteller legen dar, dass eine völlige Wiedergutmachung des historischen Unrechts nicht möglich ist. Sie bekennen sich zu den gleichen Zielen, wie die Sudetendeutsche Landsmannschaft in Deutschland und deren Pendant in Österreich, die Ackermann-Gemeinde und das Sudetendeutsche Büro in Prag.
Das Innenministerium reagierte mit der Abweisung des Antrags vom 24. 8. 2009. Die Behörde beruft sich auf den Urteilsspruch des tschechischen Verfassungsgerichts Nr. 14/1994, beziehungsweise in erster Linie auf dessen Begründung, auf eine Stellungnahme des Außenministeriums (die Beneš-Dekrete sind angeblich im Einklang mit den Völkerrechtsverträgen, die für die Tschechische Republik verbindlich sind), auf die Deutsch-Tschechische Erklärung, das "Potsdamer Abkommen" vom August 1945 und die Pariser Verträge von 1954. Gemäß dem Vereinsgesetz von 1990 müsse die Registrierung abgewiesen werden, weil die Ziele des Verbandes verfassungs- und gesetzeswidrig seien. Dazu muss bemerkt werden, dass in einem demokratischen Staat ideologische Standpunkte und Erklärungen staatlicher Institutionen für die Bürger nicht verbindlich sind. Zudem existiert nur ein Abschlussprotokoll der Potsdamer Konferenz, in dem die Vertreibung nicht angeordnet, sondern gebilligt wird.
Die Antragsteller reichten gegen den Bescheid des Innenministeriums eine Klage beim Stadtgericht in Prag ein, das diese am 5. 10. 2009 aus formellen Gründen abwies (ein Vorbereitungsausschuss ohne Rechtssubjektivität kann sich nicht beschweren, nur seine Mitglieder). Die Antragsteller leisteten dem Gericht umgehend Folge und reichten erneut eine Klage ein. Auch das Ministerium rief den Gerichtshof mit einer Stellungnahme vom Januar 2010 an. Darin wendet die Behörde ein, die Formulierung der Tätigkeitsziele in der Satzung öffne "keinen Raum für eine öffentliche Diskussion zu den genannten Themen". Das Ministerium bemerkte, nichts verwehre den Mitgliedern des Vorbereitungsausschusses, ihre nonkonforme Gesinnung als Einzelpersonen oder informelle Gruppierung zum Ausdruck zu bringen, aber Aktivitäten dieser Art könnten nicht aufgrund einer von einer staatlichen Institution genehmigten Satzung ausgeübt werden (in dieser Auslegung kehrt die Vereinigungsfreiheit in Tschechien faktisch vor das Jahr 1989 zurück) und stellte fest, dass zum Beispiel die Eröffnung des Büros der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Prag zu einer Reihe erbitterter Proteste geführt habe. Die Antragsteller wiesen nachfolgend alle Argumente des Innenministeriums zurück.
Am 31. 3. 2011 hob das Prager Stadtgericht den Bescheid des Innenministeriums aus formellen Gründen auf: Die Begründung der Abweisung ist nicht hinreichend durch Verweise auf konkrete Rechtsnormen untermauert und somit unüberprüfbar. Damit entsprach das Gericht faktisch der Beschwerde der Antragsteller.
Und nun zur politischen Seite der Angelegenheit: Die gerichtliche Entscheidung halte ich für richtig. Wenn das Gericht die Abweisung abgesegnet hätte, würde das prinzipielle Konsequenzen für die Definition der Rechte und Freiheiten der Bürger in der Tschechischen Republik haben. Auch wenn bei uns Präzedenzfälle im juristischen Sinne des Wortes keine große Rolle spielen, tun sie dies in politischer Hinsicht sehr wohl. Zugleich muss konstatiert werden, dass die Antragsteller weder dem Ministerium, noch dem Gericht ihre Aufgabe erleichtert haben. Nach den Worten eines von ihnen, Tomáš Pecina, "wollten sie (mit dem Antrag - Anm. des Autors) experimentell überprüfen, ob das Ministerium einen Registrierungsvermerk oder eine Eingreiftruppe schicken wird". Ich befürchte, dass es sich um eine äußerst fadenscheinige Begründung handelt - wehe dem, der andere in Versuchung führt! Auch die Erwähnung (in den ansonsten sachlichen und aussagekräftigen Klagen der Antragsteller), das heutige Innenministerium sei die Nachfolgeinstitution des kommunistischen, halte ich für absurd und inkorrekt. Anständigerweise müsste auch festgestellt werden, dass sich die Befangenheitseinwände gegenüber der Senatspräsidentin Dr. jur. Hana Veberová via facti als unbegründet erwiesen haben.
Dabei bin ich mit der überwältigenden Mehrheit der Ziele der Vereinigung einverstanden. Vorbehalte habe ich lediglich zur konkreten Definition der materiellen Schadenswiedergutmachung (es gibt dafür wesentlich weniger Raum, als im Satzungsentwurf angegeben ist) und vor allem zu der Bezeichnung "Sudetendeutsche Landsmannschaft in Böhmen, Mähren und Schlesien" an sich, die dem Titel der sudetendeutschen Organisation mit Sitz in München allzu sehr ähnelt. Diese hat aus verständlichen Gründen protestiert (wobei sie kein Verbot der Vereinigung fordert, wie es in dem Bericht von "Lidové noviny" missverständlich heißt). Damit wird die Tatsache verschleiert, dass die Lösung des sudetendeutschen Problems nunmehr ausschließlich eine tschechische Angelegenheit ist, bei der uns Tschechen niemand helfen wird. (Weder die sudetendeutschen Organisationen und schon gar nicht Deutschland an sich, weil sie dazu einfach nicht in der Lage sind. Sie respektieren, dass dies unsere Angelegenheit ist.) Zugleich schließt sich die Vereinigung für tschechische Bürger - die überwältigende Mehrheit weiß überhaupt nicht, warum sie einer sudetendeutschen Organisation beitreten sollte. Schließlich sind wir Tschechen. Die Antragsteller werden somit zu einfachen Zielscheiben für (historisch offensichtlich unbelehrbare) Leute wie die Journalisten Luboš Palata oder Daniel Kaiser.
Trotz dieser Vorbehalte muss festgestellt werden, dass ich die Initiative für verdienstvoll halte, weil sie faktisch das lebendig begrabene Problem der Sudetendeutschen erneut geöffnet hat. Die wütende Reaktion des Herrn Palata in der Samstagausgabe von "Lidove noviny" spricht Bände.
Die leicht gekürzte Version dieses Kommentars erschien am 4. April 2011 in "Lidové noviny"
Übersetzung Sylvia Janovská