Was auf dem Teppich sein darf
Ungarn steht jetzt in Brüssel am Pranger - zur großen Freude seiner Nachbarn. Ein bisschen ist Budapest selbst daran schuld: Das neue Medienrecht ist - gelinde gesagt - problematisch und das Bemühen, das Gesetzeswerk in Ordnung zu bringen, erkennt niemand mehr an. Ganz im Gegenteil: Erwartet werden neue Sünden, und die haben sich angeblich schon eingestellt. Als EU-Ratspräsident stellte sich Ungarn in Brüssel im Gebäude des Europäischen Rates mit einem 202 Quadratmeter großen Teppich vor, auf dem 23 eingewebte Bilder die ungarische Geschichte und herausragende Persönlichkeiten erfassen, die sich in der Politik und Kultur des Landes durchgesetzt haben. Ich betone, dass die Anordnung im Prinzip chronologisch ist.
Der Angelegenheit nahmen sich umgehend mit hämischer Entrüstung tschechische Periodika an (sowohl die Presse - die linksorientierte Tageszeitung "Pravo" als auch die elektronischen - die Online-Zeitungen idnes.cz und lidovky.cz). Die entsprechende Information übernahmen diese Medien von der unabhängigen Brüsseler Online-Zeitung EUobserver.com (es handelt sich um kein offizielles Blatt der EU). Die Meldung lautete, dass einige EU-Abgeordnete (genauer gesagt zwei) gegen den nationalistischen Geist protestiert haben, in dem der Teppich angefertigt sei. Ich lasse jetzt die exzentrischen Ansichten des Herrn „mcm“ in "Právo" beiseite, den sogar stört, dass auf dem Teppich der Komponist Liszt, dem er die ungarische Herkunft absprach, und die ungarische Königin Elisabeth abgebildet sind. Der größte Stein des Anstoßes ist aber die Landkarte der Habsburger Monarchie aus dem Jahr 1848, auf der auch die Grenzen des Königreichs Ungarn als ihr Bestandteil eingezeichnet sind. In den Jahren 1848/49 fand nämlich der große ungarische Nationalaufstand statt, der zwar letztlich mit russischer Hilfe blutig unterdrückt wurde, aber in den folgenden Jahren seine Früchte trug. Dies missfällt der grünen österreichischen EP-Abgeordneten Ulrike Lunacek und auch der rumänische sozialistische EP-Mandatsträger Ion Mircea Pascu protestierte. Frau Lunacek behauptet, die Ungarn hätten sich neunzehn Jahre nach der Revolution mit den Österreichern im Prinzip die imperialistische Vorherrschaft über die übrigen Völker geteilt und beschuldigt die ungarische Regierung des Nationalismus. Herr Pascu hebt wiederum die Erinnerung an "Großungarn" hervor, das angeblich nicht das geeignetste Symbol für die EU-Ratspräsidentschaft ist.
Zu dem derart aufgeschlüsselten Problem äußerte sich nachfolgend noch der Sprecher des slowakischen Außenministeriums, dem zufolge die Landkarte des historischen Ungarn in die Geschichtsbücher und nicht auf einen Teppich im Brüsseler EU-Gebäude gehört.
Diese Argumente bringen mich leicht in Verwirrung. "Großungarn" existierte fast tausend Jahre lang im Prinzip in den Grenzen, die auf der Karte eingezeichnet sind. Die Ungarn bekennen sich zu ihm als Teil ihrer Vergangenheit. Das darf man nicht? Wir Tschechen bekennen uns in der Präambel der Verfassung wiederum "zu allen guten Traditionen der vergangenen Staatlichkeit der Länder der Böhmischen Krone und auch zur tschechoslowakischen Staatlichkeit". Verbieten uns das die Rumänen und werden die Slowaken protestieren, wenn die Landkarte der Tschechoslowakei anderswohin als in historische Publikationen gerät? Und warum ist im Übrigen nicht auch von "Großrumänien" die Rede? Das heutige Rumänien ist schließlich wesentlich größer als das rumänische Fürstentum von 1866 und auch als das Königreich Rumänien von 1881! Damit man mich richtig versteht: Ich möchte Rumänien nicht verkleinern, sondern nur auf die Unsinnigkeit derart dehonestierender Beiworte aufmerksam machen.
Ähnliche Züge hat auch das Bluffen mit den Worten "magyarisch" und "Magyar". Im Tschechischen und im Slowakischen gibt es für "ungarisch" und "Ungarn" diese zwei Ausdrücke, im Ungarischen im praktischen Gebrauch nur einen und zwar „magyar“. Ähnlich wie die Deutschen für die tschechischen Worte „Čechy“ und „český“ zwei Begriffe verwenden, nämlich „Böhmen“ und „böhmisch“ sowie „Tschechien“ (bzw. Tschechei nach dem Muster Slowakei oder Türkei) und „tschechisch“. Dennoch verweist unsere Verfassung zu Recht auf die Traditionen des mittelalterlichen Böhmen, obwohl wir die Nationalität in der heutigen Bedeutung anders als damals beurteilen, und der Sinn nicht in der Negierung der Wichtigkeit der deutschen Bevölkerungsgruppe für die politische und kulturelle Entwicklung des Staates besteht. Für die Ungarn gilt das Gleiche, was nicht durch Wortspiele verschleiert werden sollte. Und wenn an einer anderen Stelle als in einer historischen Publikation die Karte der mittelalterlichen Länder der Böhmischen Krone einschließlich Ober- und Niederlausitz und Schlesien oder der Tschechoslowakei auftaucht, bedeutet das noch nicht, dass wir ein Stück Deutschlands oder die Slowakei okkupieren möchten.
Eine weitere Sache ist das Problem des österreichisch-ungarischen Ausgleichs, auf das Frau Lunacek anspielt. Wir sehen heute nicht klar genug, dass dieser Ausgleich das Ergebnis einer Reihe blutiger und blutig unterdrückter Aufstände gegen die Habsburger war, dass sich ihn die Ungarn hart erkämpfen mussten. Sicher, der endgültige Kompromiss wurde auch auf Kosten von uns Tschechen ausgehandelt. Dennoch haben wir guten Grund, zu verstehen, dass die Ungarn den Ausgleich (zu Recht) als ihren politischen Erfolg verstehen. Ein Erfolg, der sicher auch seine Schattenseiten hatte. Und genauso haben wir wiederum das Recht, von den Ungarn Verständnis dafür zu fordern, warum wir uns zum Vermächtnis der tschechoslowakischen Staatlichkeit bekennen, obwohl auch diese ihre Schattenseiten hatte und u. a. auch auf ungarische Kosten erlangt wurde. Zum Ausgleich und zur endgültigen Versöhnung zwischen den mitteleuropäischen Völkern sowie zur definitiven Stabilisierung der Region müssen die Völker sowohl die Unvollkommenheiten dessen begreifen, worauf sie selbst stolz sind, als auch die Vorzüge von dem, was sie ihren Nachbarn vorwerfen.
Das, was einige in der EU (der Vorwurf betrifft nicht die EU als Ganzes: der Sprecher der EK lehnte es ab, die Angelegenheit zu kommentieren) offensichtlich aus Idealismus versuchen - der, wie es oft zu sein pflegt, unmittelbar an Dummheit grenzt - besteht darin, die Vergangenheit vom Teppich unter den Teppich zu kehren und sich der Zukunft zu widmen. Diese hat den Vorteil, dass sie sich noch nicht ereignet hat. Doch ohne das gemeinsame kritische Verständnis der gemeinsamen Vergangenheit wird es keine Zukunft geben.
überregionale Tageszeitung "Lidové noviny", 17. Januar 2011
Übersetzung Sylvia Janovská