Ein bolschewistisches Experiment
(Aufgrund der Verkürzung meiner ursprünglichen Antworten ist es an zwei Stellen zu einer Sinnentstellung dessen gekommen, was ich sagen wollte. Ich gestatte mir deshalb, diese Passagen zu korrigieren. Die betreffenden Stellen sind fett gedruckt.)
Herr Doležal, erst vor zwei Jahrzehnten haben die Menschen in der DDR und Tschechoslowakei friedlich für die Freiheit gekämpft. Heute wissen ihre Kinder kaum noch etwas über diese Revolution. Diskussionen über Zivilcourage sucht man in den allermeisten Klassenzimmern vergeblich, ebenso wie einen fundierten Unterricht über den Kommunismus.
Bohumil Doležal: Ich weiß nicht, ob man sich Zivilcourage aneignen kann, indem man in der Schule über Zivilcourage spricht. Sie offenbart sich eher mithilfe von Gesprächen über aktuelle Probleme. Man erlernt sie sozusagen in der Praxis. Ich bin der Meinung, dass die Diskussion über die mangelhafte Bildung übertrieben ist. Damit will ich nicht bestreiten, dass die Schüler die grundlegenden Fakten über den Kommunismus kennen sollten.
Die Frage der Erinnerungskultur wird in Tschechien und Deutschland immer wieder neu gestellt. Die Freiheit, die ihre Eltern vor 21 Jahren erkämpft haben, ist für die heutigen Schüler inzwischen zur Normalität geworden. Tschechische Schüler wissen über den Kommunismus erschreckend wenig. Laut Umfragen glaubt die Hälfte der deutschen Oberstufenschüler nicht, dass die DDR eine Diktatur war.
Bohumil Doležal: Hängt das nicht eher damit zusammen, dass diese Hälfte glaubt, dass das, in was sie leben, keine Demokratie ist? Demokratie ist für die heutigen Europäer, vor allem für die Deutschen, ein so genannter Sozialstaat. Ein Staat, der sich um die materiellen Bedürfnisse kümmert. Ich befürchte, dass Freiheit für viele Bürger nicht zur Normalität geworden ist, sondern eine verheimlichte Last darstellt. Der Bolschewismus hatte auch angenehme Seiten. In ihm zu leben, ist in vieler Hinsicht bequem. Trotz allem war er hinterhältiger als der Nationalismus. Das Problem ist, sich an die Freiheit zu gewöhnen; zu erlernen, was richtig ist, und wenn es unausweichlich ist, auf das, was auf uns momentan angenehm wirkt, zu verzichten, um auf nachhaltige Werte zu bauen. Es gibt nur wenige Leute, die bereit sind, darauf einzugehen. Das hängt damit zusammen, dass es bei uns nur wenige gibt, die in die Kirche gehen. Wenn man diese Dinge im grundlegenden Bewusstsein verankert, wird es weitaus einfacher sein, die Schüler über das damalige Regime zu unterrichten.
Inwiefern müsste der Lehrplan verändert werden, um schließlich die demokratischen Werte Europas dauerhaft zu festigen?
Doležal: An tschechischen Schulen müsste viel mehr Wert auf Religion gelegt werden. Es ist sehr wichtig, den Kindern grundlegende Informationen darüber zu geben – vor allem dann, wenn sie in einem atheistischen Land aufwachsen und nicht an Gott glauben. Das ist eines der größten Probleme in Tschechien. Denn auf diesen Grundlagen beruhen die demokratischen Werte – ohne die nötigen Informationen kann man diese Werte nicht begreifen. Darüber hinaus kann man jemanden nur dann von den schlechten Seiten des ehemaligen Regimes überzeugen, wenn man fähig ist, etwas anderes und besseres zu bieten.
Liegt die Unwissenheit auch daran, dass die neueste Geschichte an deutschen Schulen erst kurz vor dem Abitur durchgenommen wird? Der tschechische Lehrplan sieht für das 20. Jahrhundert auch gerade mal ein halbes Jahr vor – für den Kommunismus bleibt da nicht viel Raum.
Doležal: Es kommt nicht so sehr auf die Lehrpläne und auf die Zeit an, in der man sich mit dieser Epoche beschäftigt, in der wir ein Teil der russischen kommunistischen Kolonialmacht waren. Zudem kommt es nicht darauf an, ob man diese Thematik zwei oder sechs Stunden wöchentlich gelehrt bekommt. Es ist sehr schwer, den Menschen die Nachteile des „Kommunismus“ zu erklären, die in einer Gesellschaft leben, in der die Reste der kommunistischen Mentalität noch nicht überwunden sind. Ich möchte die Bedeutung der Sozialpolitik des Staates nicht unterschätzen, aber die Ideologie des "Sozialstaates" enthält Elemente der kommunistischen Mentalität.
Die Lehrerausbildung in der neuesten Geschichte in Tschechien ist noch immer mangelhaft. Welche Vorschläge haben Sie für die oftmals ratlosen Lehrer, den Geschichtsunterricht attraktiver zu gestalten?
Doležal: Eine unfruchtbare Sache attraktiver zu unterrichten, hat keinen Sinn. Solange die breite Öffentlichkeit denkt, dass Freiheit und Demokratie mehr Bequemlichkeit und mehr Wohlstand bedeuten, wird diese Annahme auch weiterhin in den Klassenzimmern verbreitet sein.
Die Vorurteile sitzen teilweise tief in den Köpfen. Werden diese im Elternhaus verbreitet oder woher stammen die oft falschen Interpretationen über den Alltag im damaligen Regime?
Doležal: Sicherlich erfahren die Kinder zuhause mehr über die Vergangenheit als in der Schule. Ich bin der Meinung, dass es sich nicht um eine falsche Interpretation des damaligen Regimes handelt, sondern um eine falsche Vorstellung davon, was es substituieren sollte und in welchen Bereichen Änderungen vorgenommen werden sollten.
Der Kommunismus herrschte nicht nur in der DDR, sondern in der gesamten östlichen Hälfte Europas. Die DDR war der westlichste Vorposten eines Systems, das Millionen Tote hervorbrachte. Das wird in Deutschland oft vergessen oder verdrängt.
Doležal: Vielleicht liegt das Problem im Begriff „Kommunismus“ selbst. Hier herrschte kein Kommunismus, sondern ein russisches Imperium. Dieses wurde von einer Art säkularisierten Religion beherrscht, die man „Marxismus- Leninismus“ nannte. In diesem Umfeld entpuppte sich die allerschlimmste Seite der russischpolitischen Tradition. Unser Land wurde zu einer russischen Kolonie.
Die Geschichte war klüger als die Bolschewiken. Woran ist die Weltrevolution ihrer Meinung nach gescheitert?
Doležal: An Betrug und Falschheit. Es handelte sich keineswegs um eine Weltrevolution, sondern vielmehr um eine Stärkung und Ausweitung des russischen Imperiums mit einer neuen Ideologie. Sie war in vielerlei Hinsicht ein verzerrtes Spiegelbild der christlichen Lehre (elementare Triebkraft der Welt ist der Hass; der Sinn des Lebens ist der momentale materielle Nutzen; Versprechen werden nur eingehalten, wenn das für den Versprechenden von Vorteil ist usw.). Es zeigte sich, dass diese Innovation auf kurze Sicht zwar funktioniert, langfristig aber eben nicht. Masaryk sagte einst, der christliche Gedanke sei nicht nur edel, sondern auch praktisch. Das bolschewistische Russland ist ganz gewiss ein negatives Beispiel. Denn dort wirkte sich das verkehrte Christentum äußert unpraktisch aus. Dieses Experiment mussten Millionen Menschen mit dem Leben bezahlen. Und das nicht nur in den russischen Kolonien, sondern auch in Russland selbst.
Das simpelste Argument gegen den Kommunismus ist der Kommunismus selbst. Ist der Kapitalismus genauso falsch wie der Kommunismus?
Doležal: Kapitalismus ist ein System der freien Marktwirtschaft. Er ist ein Teil der demokratischen Ordnung, und selbstverständlich ist er weder der wichtigste, noch der wesentlichste . Es gilt jedoch: Wenn man die freie Marktwirtschaft auslöscht, dann löscht man auch die Demokratie aus. Das haben die Russen während ihres bolschewistischen Experiments vorgemacht.
Verteidiger des Kommunismus sagen, man habe den „guten Marx“ missbraucht. Gibt es auch akzeptable Varianten des Sozialismus?
Doležal: Bei uns argumentierte man in der Zeit der Reformierung des Kommunismus mit dem „jungen Marx“. In Wirklichkeit ist der Marxismus nur eine utopische und extremistische Ideologie. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass die sozialistische Bewegung auch Früchte tragen kann. Sie wandte sich in Europa liberal demokratischen Grundlagen zu und wurde zu einem Grundpfeiler der modernen Demokratie. Zuvor musste die sozialistische Bewegung allerdings die marxistische Utopie aufgeben.
Das Gespräch führte Martin Preusker.
Prager Zeitzung , 2/2011