Wir vergeben und bitten um Vergebung
Den Impuls zu dieser Reflexion hat mir der Journalist Luboš Palata mit dem in der überregionalen Tageszeitung "Lidové noviny" am 9. 12. 2010 veröffentlichten Artikel „Zwischen Deutschland und Russland" geliefert. Palata ruft dazu auf, reinen Tisch zwischen den Nachbarn zu machen und das Erbe der zwei großen Kriege des vergangenen Jahrhunderts zu überwinden. Ich halte seinen Standpunkt für prinzipiell inkonsequent und möchte auf diese Inkonsequenz - die zwar wie die Wahrheit aussieht, womit es aber auch schon getan ist - nachdrücklich aufmerksam machen.
Palata geht von zwei Thesen aus, denen man sicher zustimmen kann. Erstens: „Mitteleuropa … trägt noch immer die vergangenen Kriege aus, befasst sich endlos mit dem alten Unrecht und mit Entschuldigungen. Die Region muss das, weil sie die Traumata noch immer nicht überwunden hat"(die beide Weltkriege mit sich gebracht haben). Und zweitens: „…wenn der Zweite Weltkrieg wirklich ausgelöscht werden sollte, sollte es bei ähnlichen Reminiszenzen in etwa wie bei Grunwald aussehen, wo Polen und Deutsche in diesem Jahr des 600. Jahrestages einer der größten Schlachten des Mittelalters gedacht haben. Gemeinsam, ohne in Sieger und Verlierer geteilt zu sein." (Das ist leicht übertrieben. Meiner Ansicht nach ist es nicht möglich, völlig unberücksichtigt zu lassen, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg glücklicherweise nicht gewonnen hat.)
Als Überwindung der Traumata führt Palata die Entschuldigung des russischen Präsidenten Medwedew für Katyn an (für das Massaker von mehr als 20 000 polnischen Offizieren hatte sich zuvor schon mehrmals Medwedews Amtsvorgänger und derzeitige Regierungschef Putin entschuldigt). Zudem verweist Palata darauf, wie der deutsche Bundespräsident Wulff in diesem Jahr an die einstige Geste des damaligen Bundeskanzlers Brandt in Warschau angeknüpft hat (Brandt war am Mahnmal des Aufstandes im Warschauer Ghetto in die Knie gesunken.). Und Palata gibt der Hoffnung Ausdruck, dass einmal auch die Tschechen aufhören werden, argwöhnisch zu schauen, wie die Deutschen "in aller Stille" Denkmale für ihre Kriegsopfer errichten (in Wirklichkeit schmückten Tafeln mit den Namen der Gefallenen bereits in den fünfziger Jahren die protestantischen Kirchen sogar in der einstigen DDR) und ihrer zerbombten Städte gedenken.
In diesem Zusammenhang erwähnt Palata die angeblich positive Bedeutung der Deutsch-Tschechischen Erklärung, die sich angeblich als "Airbag" bewährt hat, wann immer es wegen eines unterschiedlichen Standpunkts zur Vergangenheit zu Spannungen zwischen Berlin und Prag gekommen ist.
An dieser Stelle muss konstatiert werden, dass die Deutsch-Tschechische Erklärung auf einer tschechischen Finte basiert, auf die die Deutschen eingegangen sind. Jede Seite legt die gemeinsame Erklärung anders aus: Die Deutsche als Verurteilung der Vertreibung der Sudetendeutschen. Die tschechischen Politiker als Verurteilung der sogenannten Exzesse, zu denen es bei der "Abschiebung" gekommen ist (die Abschiebung an sich war okay). Das ist eine absolut unbefriedigende Lösung, die in Zukunft zu nichts gut sein kann. Es genügt nämlich nicht, wenn wir den Deutschen tolerieren werden, dass sie den Gefallenen Denkmale errichten und der Zerstörung deutscher Städte kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges gedenken. Auch wir müssen die Verbrechen kennen, die wir nach dem Krieg an unseren deutschen Mitbürgern begangen haben (wobei die Ruinierung und Vertreibung von drei Millionen Menschen das grundsätzliche und auch größte Verbrechen darstellten), so wie die Deutschen ihre Schuld an dem Krieg kennen und sich wiederholt zu ihr bekennen.
Dass die deutsche Schuld größer war, ist eine plumpe Ausrede: Wenn sich jemand wie ein großes Schwein verhält, bedeutet das noch nicht, dass sich der Betroffene wie ein kleineres Schwein betragen kann, wenn sich ihm eine passende Gelegenheit bietet.
Die polnischen Bischöfe haben in den sechziger Jahren eine gemeinsame Erklärung mit der beredten Bezeichnung "Wir vergeben und bitten um Vergebung" herausgegeben. Wir haben wahrlich Gründe, um gleichfalls um Vergebung zu bitten. Um dies einzusehen, müssen wir selbst die Verbrechen vergeben können, die an uns verübt worden sind. Als Christen wussten dies die polnischen Bischöfe. Und aus diesem Bekenntnis geht hervor, dass jeder bei seinen Sünden beginnen sollte, sonst wird sich der Weg zu Versöhnung und Verständigung nicht öffnen.
Es ist schön, dass Medwedew in Katyn Buße tut und Wulff in Warschau. Aus unserer Sicht wäre es noch viel schöner, wenn jetzt der tschechische Ministerpräsident Nečas, sein bayerischer Kollege Seehofer und der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft Posselt (der in Lidice öffentlich seinem Bedauern und Reue Ausdruck gab) an den Massengräbern der erschlagenen Deutschen in Postoloprty (Postelberg) zusammenkommen würden und gemeinsam ihr Bedauern zu etwas äußern würden, was nicht geschehen sollte und sich nicht wiederholen darf. Das ist freilich reine Utopie.
Online-Ausgabe von "Lidove noviny", Lidovky.cz, 10. Dezember 2010
Übersetzung Sylvia Janovská