Der 28. Oktober bei uns in Tschechien und in der Slowakei

Die Feierlichkeiten anlässlich des 92. Gründungstages der einstigen eigenständigen Tschechoslowakei gingen in Tschechien völlig reibungslos und mit allem Pomp über die Bühne: angefangen bei den Kranzniederlegungen bis zum Gesang des angeblichen Lieblingsliedes „Ach synku synku…“ (Ach, Söhnchen, Söhnchen mein…) des Staatsgründers und ersten Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk bis zur abendlichen Ordensverleihung. Als ich ein kleiner Junge war - in der Ära der Dritten Republik - wurde im Zusammenhang mit Masaryk eher das Lied "„Teče voda, teče" (Das Wasser fließt und fließt) gesungen. Doch dieses kennt heute kaum noch jemand.

Uneingeweihte möchte ich daran erinnern, dass es sich bei keinem der beiden Lieder um ein Werk Masaryks handelt. Und die Leser der Tageszeitung "Právo" möchte ich darauf aufmerksam machen, dass Masaryk auch nicht der Autor des Pamphlets Détruisez l´Autriche-Hongrie war, welches ihm dort der Kommentator Jiří Hanák zugeschrieben hat. (Das Pamphlet stammt von Dr. Edvard Beneš.)

Und das ist typisch: Niemand liest heute das Werk von T. G. Masaryk. Das wäre zwar ausgesprochen nützlich, aber wie dies bei nützlichen Dingen zu sein pflegt, auch mühselig.

Ein gewisses Problem ergab sich in der Slowakei, wo der 28. Oktober nur ein Gedenktag ist. In Bratislava entschied man sich bei dieser Gelegenheit, ein Standbild von T. G. Masaryk aufzustellen. Die Angelegenheit genoss offenbar die Unterstützung der Regierung, weil an der Enthüllung auch Außenminister Mikuláš Dzurinda teilnahm. Allerdings führte die Entscheidung zu Protesten der national-extremistischen Volkspartei "Naše Slovensko" (Unsere Slowakei). Auch das nationale Kulturinstitut der Slowakei, Matice slovenská, ist mit der Errichtung des Denkmals nicht einverstanden.

Weil meine Bibliothek gegenwärtig im Zustand des Umzugs ist, kann ich nicht 100-prozentig bestätigen, ob die angebliche Masaryk-Äußerung "Es gibt kein slowakisches Volk", mit der die slowakischen Nationalisten hausieren gehen, wirklich authentisch ist. Ich hege allerdings den starken Verdacht, dass es an dem ist. In jedem Fall war Masaryk der Autor des Konzepts, dem zufolge sowohl politisch als auch ethnisch ein tschechoslowakisches Volk existiert, weil es eine gemeinsame Sprache spricht, die zwei Varianten hat: Tschechisch und Slowakisch. Masaryk verstand dies als Beschreibung der Realität, wobei es jedoch im Grunde genommen um ein Zukunftsprojekt ging. Dieses sollte den Tschechen in ihrer damaligen komplizierten Lage mehr Kraft geben (die Bruderschaft verband sich in dem Konzept - zugestandermaßen - mit Pragmatismus). Diese Ideologie funktionierte ein paar Monate. Dann begann sich langsam die Tatsache durchzusetzen, dass es sich um zwei eigenständige politische Völker handelte - von der Autonomie und dem "asymmetrischen" Modell über die Förderalisierung bis zur friedlichen Trennung des gemeinsamen Staates.

Es ist selbstverständlich Sache der slowakischen Öffentlichkeit, der slowakischen Regierung und der Bürger von Bratislava, welches Denkmal sie sich errichten. Die Slowakei ist ein demokratisches Land. Wer nicht einverstanden ist, kann protestieren. Ich muss gestehen, dass ich die etwaigen Gründe der slowakischen Unzufriedenheit bzw. Bedenken (es muss nicht gerade um die Extremisten gehen) verstehe. Wahr ist, dass die Tschechoslowakische Republik den Slowaken bessere Emanzipationsbedingungen gewährte als sie je zuvor hatten. Dass sich das tschechisch-slowakische Verhältnis nach und nach der Normalität angenähert hat und dies mehrheitlich auf gewaltlosem Weg geschah, ist es zu verdanken, dass wir auch nach der "Trennung" Freunde geblieben sind. Das sind aber lediglich erleichternde Umstände. Masaryks Konzept war falsch und - so leid es mir tut - leicht schlitzohrig.

Dass sich der Großteil der Slowaken an Masaryk und die Erste Republik nicht im Bösen erinnert, ist schön. Zugleich ist das auch für uns Tschechen eine Inspiration.

Auch wir waren nämlich einst - und es ist noch gar nicht so lange her - Teil eines Reiches, das zwar für immer untergegangen ist, uns aber zumindest in seinen letzten fünfzig Jahren mehr Gutes als Schlechtes gebracht hat. Der an der Spitze dieses Reiches stehende Monarch hatte im Prinzip redliche Absichten, konnte aber nur wenige davon umsetzen. Das war nicht nur seine Schuld. (Letztendlich stellte er hochbetagt nur noch ein Relikt der Vergangenheit dar und zerrte sein Reich in den fürchterlichen Krieg, der es in Stücke riss). Wir Tschechen (und in diesem Punkt unterscheiden wir uns von den Slowaken in der Beziehung zu uns Tschechen) führen mit diesem Reich bis heute so etwas wie einen Kampf. Also bildlich gesagt: Wenn wir Tschechen einmal dahin gelangen, dass wir in Prag (unter wütenden Protesten unterschiedlicher Freiheitskämpfer) ein Standbild von Kaiser Franz Joseph I. errichten, kommen wir hinsichtlich der Aussöhnung mit der Vergangenheit so weit, wie es heute die Slowaken sind.

Online-Ausgabe der Tageszeitung "Lidové noviny", lidovky.cz, 29. Oktober 2010
Übersetzung Sylvia Janovská