Das Mausoleum
In der Printausgabe der überregionalen Prager Tageszeitung "Lidové noviny" ist am 10. September eine Nachricht erschienen, der zufolge in Ústí nad Labem ein Museum entsteht, das die Geschichte der "deutschsprachigen Einwohner Tschechiens" aufzeichnen wird. Angeblich soll die Institution als Durchbruch in den deutsch-tschechischen sowie den österreichisch-tschechischen Beziehungen gelten. Der Hinweis, um welche Art Durchbruch es sich handeln soll, erweckt leichten Argwohn.
Ich möchte nicht den guten Willen der Leute in Frage stellen, die an der Ausstellung gearbeitet haben und bezweifele nicht, dass eine derartige Initiative (besser gesagt, auch eine derartige Initiative) Sinn hat. Naturgemäß ist dieser Sinn jedoch mit einem gewissen "aber" verbunden.
Die Exposition soll die „Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart" aufzeichnen. Blanka Mouralová, die Direktorin des Collegium Bohemicum, das das Projekt ausgearbeitet hat, sagte dazu: "Wir wollen auf diese Weise die deutschsprachigen Einwohner wirklich in die tschechische Historie zurückbringen." Es handelt sich angeblich um eines der kostspieligsten musealen Projekte der heutigen Zeit.
Allerdings ist es äußerst schwer, sich des Verdachts zu erwehren, dass es darum geht, die tschechisch-deutschen Beziehungen sozusagen von König Přemysl Ottokar II. bis Präsident Edvard Beneš zu einem ansehnlichen Päckchen zu ordnen und sie in eine Schublade mit der Aufschrift "Geschichte" zu stecken. Es tut mir leid, aber dazu ist es noch zu früh. Oder besser gesagt: Wenn das getan wird, ist das bei weitem nicht alles, was getan werden sollte.
Zum einen leben bislang die "deutschsprachigen Einwohner Tschechiens", die das Glück hatten, die Endphase der Koexistenz auf dieser oder jener Seite des Eisernen Vorhangs zu überleben. Sie in die Schublade der Geschichte zu stecken, heißt, sie lebendig zu begraben. Höchstwahrscheinlich sollten sie dort als "Datenbank gespeichert" (den Begriff habe ich mir aus einem ganz interessanten Teil der Serie Star Trek geliehen) werden. Ein Begräbnis von Lebenden, wenn auch nur bildlich gesehen, ist abscheulich. Es sind nur noch wenige: Dass sich die Reihen der ehemaligen deutschen Mitbürger im Laufe der Zeit gelichtet haben, dafür haben alle tschechischen Außenminister - angefangen von Josef Zieleniec bis zum heutigen Karel Schwarzenberg - mit einer Methode gesorgt, die im Sport "Spielverzögerung" genannt wird. Jemand sollte sich mit ihnen unterhalten, aber andere Personen als die Angestellten eines Bestattungsinstituts. Meiner Ansicht nach müsste das nicht gerade Herr Schwarzenberg sein, der meiner Meinung nach in der Angelegenheit doch etwas mehr tun könnte als ich - und vielleicht könnten sie ihn dann in der österreichischen Tageszeitung "Die Presse" nicht der Schlitzohrigkeit beschuldigen.
Und dann sind hier die Toten, über deren Gebeine wir manchmal bei unseren Spaziergängen durch die Natur stolpern. Ab und zu ruft dies einen Skandal hervor: Waren das Mitglieder der NSDAP? (Diese können ohne weiteres ermordet werden, ansonsten handelt es sich um einen bedauernswerten Irrtum, der freilich durch die grausame Zeit gegeben war). Die Gebeine sollten auf irgendeine Art und Weise ihre Unschuld nachweisen, dann können sie bestattet werden (auch in die Schublade mit der Aufschrift "Geschichte"), ansonsten haben sie keinen Anspruch auf ein Grab. Werden sie in dem Museum mit der Pietät verwahrt, wie sie den archäologischen Funden in der südmährischen Gemeinde Mikulčice gebührt? Oder pietätslos, wie es bei der Ausstellung "Bodies" der Fall war? Oder wird in Erwägung gezogen, dass diese Ereignisse noch nicht so lange her sind und zu einem Mord auch ein Mörder gehört, obwohl auch dieser wahrscheinlich bereits tot ist?
Die Tschechische Republik war bislang nicht fähig, sich um die Lebenden, geschweige denn die Toten zu kümmern. Die Obhut der Toten überantwortet sie großzügig der Initiative der Bürger. Im besseren Fall wirft sie ihnen zumindest keine Knüppel zwischen die Beine. Die Lebenden ignoriert sie. Zu mehr waren wir zwanzig Jahre nach der Wiedererlangung der Freiheit nicht fähig.
Online-Ausgabe der Tageszeitung "Lidové noviny", lidovky.cz, 10. September 2010
Übersetzung Sylvia Janovská