Sie wollen Verbündete nicht verteidigen, sich selbst können sie nicht

Ich kann heute zwei Ereignisse nicht kommentarlos verstreichen lassen, die meiner Ansicht nach zusammenhängen, obwohl es auf den ersten Blick nicht so erscheint. Es geht um den Angriff der israelischen Marine auf einen angeblich humanitären Konvoi im Gazastreifen und die Gründe des Rücktritts des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler.

Israelische Marineeinheiten haben in internationalen Gewässern einen Konvoi aufgebracht, der versucht hatte, die über den Gazastreifen verhängte Seeblockade zu durchbrechen, weil er dorthin humanitäre Hilfsgüter transportiere. Die israelischen Soldaten, die an Bord des Hauptschiffes des Konvois stiegen, wurden mit Eisenstäben, Messern und offenbar auch Schusswaffen angegriffen. Mit Schüssen wehrten sie sich auch. 19 Menschen, sog. unschuldige Zivilisten (siehe Foto), kamen ums Leben. Das Schiff beförderte im Rahmen der humanitären Hilfe u. a. Material, aus dem auf einfache Weise primitive Raketen hergestellt werden können. Mit diesen beschießen andere unschuldige Zivilisten ("Aktivisten" der radikalen Hamas-Organisation, die das Existenzrecht Israels nicht anerkennt und via facti versucht, den jüdischen Staat zu liquidieren) immer größere Gebiete Israels. Eine Verteidigung gegen sie ist praktisch unmöglich.

Mich fasziniert das Wort „Aktivist“. Die „Aktivisten“ stammten mehrheitlich aus der Türkei. Laut Israel wurden sie von arabischen terroristischen Organisationen unterstützt. Wo hört eigentlich der Aktivist auf und beginnt der Terrorist? Beide Worte sind einander so ähnlich!

Nachfolgend brauste eine Welle des Zorns in den westlichen Ländern auf. Alle fordern Israel zur maximalen Zurückhaltung auf. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy und die „Außenministerin“ der EU, Catherine Ashton (wie aus einem Munde mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow) verlangen eine „Aufklärung der Umstände“ des Vorfalls. Der britische Außenminister William Hague mahnt Israel, internationale Verpflichtungen zu respektieren.

In Gaza kommen (auch) unschuldige Menschen ums Leben. Sicher. In Israel kommen nur unschuldige Menschen ums Leben, weil sie ihre Existenz mit Händen und Füßen gegen eine enorme Übermacht verteidigen. Diese Übermacht will den jüdischen Staat vernichten und nicht umgekehrt: Israel will diese Übermacht nicht vernichten. Ohne die Hilfe des Westens kann es sich nicht erwehren. Noch hat niemand eine derartige Kriegsart erfunden, bei der keine unschuldigen Menschen ums Leben kommen würden. Stattdessen ist der Westen bereit, als Schiedsrichter ein Match zwischen Israel und den islamischen "Aktivisten" zu pfeifen. Woher nimmt er die entsprechende Kompetenz, wenn die "Aktivisten" in ihm auch nur einen weiteren Leckerbissen sehen? Denkt der Westen vielleicht, dass er sie mit dem verdeckten Verrat des Verbündeten befrieden wird?

Die zweite damit zusammenhängende Frage lautet: Womit darf der Westen - vor allem (aber nicht nur) das mit der Erbsünde des Zweiten Weltkriegs belastete Deutschland - den Einsatz von Gewalt legitimieren. Der deutsche Bundespräsident wurde von der tobenden deutschen Medienlobby zum Rücktritt gezwungen. Er hatte sich nämlich erlaubt zu sagen, dass ein Staat von der Größe Deutschlands, der derart vom Außenhandel abhängig ist, im Grenzfall seine Interessen auch mittels eines Militäreinsatzes wahren muss (beispielsweise wenn es darum geht, freie Handelswege zu sichern und eine regionale Instabilität zu verhindern). Eine Protestwelle erhob sich: Wirtschaftliche Interessen seien keine Rechtfertigung für einen Militäreinsatz.

Das ist eine skandalöse Behauptung: Wenn die Lebensinteressen eines Landes bedroht sind, rechtfertigt das einen Militäreinsatz. Die scheinheilige Ideologie der Verbreitung von Freiheit und Demokratie ist der Gipfel der Heuchelei. Etwas Ähnliches haben die Russen in ihrer "sowjetischen" Ära getan. Und was ist, wenn diejenigen, denen wir Freiheit und Demokratie (eventuell den "Sozialismus") mit einem Militäreinsatz aufzwingen wollen, überhaupt keinen Wert darauf legen? Und ist für uns nicht zufälligerweise von elementarem Interesse, dass beispielsweise Afghanistan nicht zu einem unkontrollierbaren Stützpunkt des islamischen Terrorismus und zu einer riesigen Raketenabschussrampe wird - naturgemäß gegen den Westen? Besteht der einzige Weg, um dies zu verhindern, darin, den Afghanen eine Demokratie britischen Typs aufzuzwingen, damit wir unser heuchlerisch idealistisches Gewissen ruhig stellen?

Anscheinend ist der Westen nicht mehr fähig, seine Verbündeten und sich selbst zu verteidigen. Er weist Fäulniserscheinungen auf, die wesentlich tiefer gehen, als die, die er einst gegenüber Hitler gezeigt hat. Umso fürchterlicher werden dann auch die Folgen sein.

Onlineausgabe der liberalen Tageszeitung "Lidove noviny" lidovky.cz, 1. Juni 2010
Übersetzung Sylvia Janovská