Die Dekrete erneut auf der Szene
Der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer hat sich in der vergangenen Woche mit einer Grußbotschaft an die Sudetendeutsche Landsmannschaft Österreich (SLÖ) gewandt. Fischer tat dies nach eigenen Worten auf Gesuch der Landsmannschaft, was mir ziemlich kurios vorkommt (wenn sie nicht angefragt hätte, würde er es nicht tun?).
Das Grußwort hat zwei Teile. Im ersten gibt es nichts, was von der traditionell vorsichtigen und gemäßigten Haltung des Präsidenten abweichen würde. Er wünscht einer an Konflikte und unschuldige Opfer erinnernden Gedenkveranstaltung einen würdigen Verlauf im Geiste der Versöhnung und Zukunftsorientierung. Angesichts dessen, dass die SLÖ zwar wesentlich schwächer, aber deutlich radikaler als ihre deutsche Schwesternorganisation ist, und die Gedenkstunde die Ereignisse von Anfang März 1919 betraf, als tschechisches Militär in einigen Städten mit mehrheitlich deutscher Bevölkerung 54 unbewaffnete Zivilisten erschoss und rund 200 verletzte, lassen sich die Worte des Präsidenten auch als subtiler Hinweis an die SLÖ interpretieren, wie an das Gedenken heranzugehen ist. Der Präsident erwähnte diese Ereignisse in der damaligen Tschechoslowakei, erinnerte aber vor allem an die „Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus“, welche „Hass, Gewalt, Verfolgung, Deportation und Vertreibung“ mit sich brachte. Das ist offensichtlich der Modus, mit dem sich ein zivilisierter europäischer Politiker der schamlosen tschechischen Staatsdoktrin von „Ursache und Folge“ (für alles sind die Deutschen und Österreicher verantwortlich, weil sie Hitler gewählt haben) weitmöglichst annähern kann.
Der Hauptgrund, warum Fischer den Vertriebenen schrieb und warum dies vor den Parlamentswahlen Ende Mai eine derartige Entrüstung auf der tschechischen politischen Szene hervorrief, findet sich im zweiten Teil des Schreibens. Der österreichische Präsident reagiert offensichtlich auf die Art und Weise, wie sich sein tschechischer Amtskollege Václav Klaus mit der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon abgefunden hat. Fischer erklärte, die Beneš-Dekrete seien „schweres Unrecht“. Die Bedingung von Klaus (die Nichtanerkennung der Europäischen Grundrechtscharta) belegt zwar, dass sich die tschechische Haltung zu den Dekreten nicht ändert, bedeute allerdings nicht, dass andere EU-Staaten die Beneš-Dekrete „legalisiert“ hätten.
Es entspricht sicher der Wahrheit, dass es sich bei den Äußerungen des österreichischen Bundespräsidenten um einen Bestandteil des Wahlkampfes handelt. Das bedeutet jedoch überhaupt nicht, dass er mit der Kritik der Dekrete nicht im wahrsten Sinne des Wortes recht hätte. Dabei betonte Fischer nur das, was die österreichische Seite bereits bei der Aufnahme der Tschechischen Republik in die EU gesagt hat: Sie sieht in den Dekreten zwar kein Hindernis, würde ungeachtet dessen aber von tschechischer Seite zumindest ein paar kritische Worte begrüßen (also keine Restitutionen, keine Entschädigungen). Und Fischer hat dies nur gesagt, weil es sich kein österreichischer Spitzenpolitiker im Wahlkampf erlauben kann, die Kritik der Dekrete zu ignorieren. Einfach aus dem Grund, weil sie berechtigt ist, und es ihm die Opponenten ansonsten zu recht um die Ohren schlagen würden.
Die Reaktion der tschechischen Politiker war eindeutig: Die Dekrete seien tabu, wie der Minister für Menschenrechte (!) Michael Kocáb erklärte. Die Siegespalme der Flegelhaftigkeit trägt der Chef der Demokratischen Bürgerpartei (ODS) und frühere Ministerpräsident Mirek Topolánek davon, der irgendetwas von dreihundertjährigem Leid und dem Bachschen Absolutismus faselte. Das alles ließ sich erwarten.
Die tschechisch-österreichischen Beziehungen weisen so etwas wie eine Symmetrie zum slowakisch-ungarischen Verhältnis auf. Wir Tschechen sollten uns nichts einreden: Sie sind unter unseren Nachbarschaftsbeziehungen die schlechtesten überhaupt. Ich muss gestehen, dass ich ein Problem mit dem österreichischen neurotischen Widerstand gegen die Atomkraft habe, die sich im Wort Temelín materialisiert (mir scheint, dass es sich um irgendein Vertretungspolitikum handelt). Und die Art und Weise, wie sich insbesondere die österreichischen Sozialisten gegen die Radaranlage im tschechischen Gebirgszug Brdy gewandt haben, betrachte ich als ungewollten, aber brutalen Angriff auf die tschechischen Sicherheitsinteressen (letztendlich haben wir das freilich wie üblich selbst vermasselt). In der Sache der Dekrete haben die Österreicher allerdings recht und es ist nicht ausgeschlossen, dass es auch bei der Lösung anderer Probleme hilfreich wäre, wenn dieses in Bewegung geriete.
Die mitteleuropäische Region von Polen bis Ungarn ist heute – nach den zwei furchtbaren Kriegskataklysmen des vergangenen Jahrhunderts - nichts anderes als ein chaotisches Kompendium der Ruinen der alten Monarchie. Vierzig Jahre war diese Region unter der Vorherrschaft des kommunistischen Russlands (zu Ehren der Österreicher muss gesagt werden, dass sie aufgrund der eigenen Verdienste fähig waren, dem sklavischen Vasallentum zu entkommen). Dabei gehört die mitteleuropäische Region historisch, kulturell und auch politisch zusammen. Sie hat gemeinsame Interessen, und es ist in ihrem Interesse, dass sie jetzt auf neuer Grundlage im Rahmen der EU kooperiert. Vor allem kann Mitteleuropa so etwas wie ein Gegengewicht gegenüber den neuen ambitionierten Hegemonien der Union bilden. Und zweitens zieht eine Chaos-Wirtschaft das Interesse Russlands auf sich. Für alle Länder und Völker dieser Region ist es von außerordentlicher Wichtigkeit, dass sie fähig sind, mit dieser großen und bewundernswerten Nation freundschaftlich und korrekt auszukommen. Die historische Erfahrung besagt jedoch, dass dabei große Vorsicht walten muss, damit sie uns dabei nicht vor lauter Liebe auffrisst.
Die Dekrete und die Vertreibung sind ein Felsblock, welcher der dringend notwendigen Zusammenarbeit der mitteleuropäischen Völker im Weg steht. Falls es nicht gelingt, ihn aus dem Weg zu räumen, wird er eine große Gefahr bedeuten, die ein potenzieller Feind einfach und geschickt missbrauchen kann. Die hysterische tschechische Reaktion auf Fischers kritische Worte belegen, dass es uns Tschechen in den zwanzig Jahren der Freiheit auf politischer Ebene nicht gelungen ist, wenigstens ein winziges Stück voranzukommen. Das ist beschämend.
liberale Tageszeitung „Lidové noviny“, 8. März 2010
Übersetzung Sylvia Janovská