Ich störe, also bin ich
Tschechien hat Europa nach der politischen Wende vom November 1989 zwei bemerkenswerte Politiker beschert: Václav Havel und Václav Klaus. Havel wollte geliebt werden (was leider nicht immer möglich ist). Klaus genügt es, wenn man in Europa auf ihn aufmerksam wird. Ob man ihn dabei auch gern hat, ist ihm egal. Es handelt sich um einen Querulantentyp, der von dem Bedürfnis besessen ist, die Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Es ist kaum zu übersehen, dass Klaus in der Sache des Vertrags von Lissabon seinen Willen durchgesetzt hat. Zuerst legte er mittels seines Sekretärs Ladislav Jakl die Latte sehr hoch (es sah so aus, als ob die erneute Öffnung und Behandlung des Vertragswerks in den Mitgliedsländern Bedingung für seine Unterschrift sein wird). Ehe Brüssel dieses Ansinnen ablehnen konnte, unterbreitete der tschechische Staatschef eine Art Kompromiss von Klaus mit Klaus: Er wolle nicht auf die britischen Wahlen warten, werde sich mit einer „irischen Lösung“ und der Zusage zufrieden geben. Die schwedische Ratspräsidentschaft reagierte sensibel und inzwischen zeichnet sich eine Lösung ab: Der Tschechischen Republik wird ähnlich wie den beiden erwähnten Ländern garantiert werden, dass ihr nationales Recht der Charta der Grundrechte der EU übergeordnet ist. Etwas Vergleichbares wird offenbar auch die Slowakei fordern. Und möglicherweise wird sich noch jemand dazu gesellen.
Die heimische Position von Klaus ist verhältnismäßig stabil: In erster Linie erfreut sich das Präsidentenamt in Tschechien großer Autorität, die in einem bestimmten Maß unabhängig davon ist, wer es gerade bekleidet. Zweitens gibt die tschechische Verfassung dem Staatsoberhaupt formell das Recht, ein Veto gegen internationale Verträge einzulegen. Und drittens hat Klaus das Thema seiner Aktion geschickt gewählt: Es drohe, dass die Beneš-Dekrete “durchbrochen“ würden, auf deren Grundlage nach Kriegsende drei Millionen Deutsch-Böhmen um ihr gesamtes Vermögen (d. h. auch um das persönliche) gebracht wurden. Zugleich wurden ihnen die bürgerlichen Grundrechte entzogen. Eine eventuelle Vermögensrückstellung würde die Besitzverhältnisse in der Tschechischen Republik völlig destabilisieren. Dank dieser Taktik gewann Klaus die Unterstützung eines beträchtlichen Teils der Öffentlichkeit (Umfragen wiesen Ergebnisse zwischen 40 bis 65 % aus).
Die Vorgehensweise von Klaus ist sowohl politisch als auch moralisch problematisch. Erstens ist ein Populismus, der darauf basiert, zuerst die Öffentlichkeit in Schrecken zu versetzen (sie kommen und nehmen uns alles weg) und unmittelbar darauf zu beruhigen (aber habt keine Angst, noch bin ich hier, um euch vor dieser Gefahr zu schützen), ziemlich billig und unkorrekt. Und zweitens geht es um den Kern des Problems: Die Beneš-Dekrete sind nicht nur auf mit dem Europäischen Recht unvereinbaren Prinzipien (Kollektivschuld, Schuldvermutung, Retroaktivität)erbaut, sondern widersprechen auch Grundsätzen wesentlich älteren Datums („Du sollst nicht stehlen“). Zugleich gilt, dass faktisch nur ein winziger Teil der Sünden der Vergangenheit wieder gut gemacht werden kann. Deshalb droht heute auch überhaupt nicht, dass sich auf dem Boden der Europäischen Union Vermögensrückstellungen durchsetzen ließen. Die Gesetze der Union sind im Unterschied zu den Beneš-Dekreten nicht rückwirkend. Ein zumindest ein bisschen anständiger Mensch wäre in dieser Situation heilfroh, dass dies der Fall ist, und würde sich in aller Stille dafür schämen, was seine unmittelbaren Vorgänger angerichtet haben. Es ist abstoßend, die Dekrete als Knüppel gegen diejenigen einzusetzen, denen wir etwas entlocken wollen, und als Lockpfeife für die, deren Unterstützung wir benötigen.
Klaus geht es allerdings im Kern nicht um die Beneš-Dekrete (womit nicht gesagt ist, dass er selbst nicht an diese Gefahr glaubt), sondern allgemeiner um die Souveränität der Tschechischen Republik und ihre Bedrohung durch die europäische Integration. Das ist auf gewisse Weise verständlich: In siebzig Jahren seiner Existenz (zwischen den Jahren 1938 und 1989) hat Tschechien über keine wirkliche Souveränität verfügt. Daraus ergibt sich der Stress in der Öffentlichkeit, der denjenigen gelegen kommt, welche vor allem für sich selbst Souveränität fordern.
Das Land mit schmerzlichen Erfahrungen aus der Zeit, in der es starken Feinden auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war, steht am Kreuzweg: Der erste Weg führt in Richtung eines Bündnisses mit jenen, denen ein ähnliches Schicksal droht und mit jenen, die fähig und bereit sind, uns Tschechen in einen anständigeren Klub aufzunehmen als der, in den wir einst geraten sind. Und zugleich in einen starken und somit wesentlich weniger bedrohten Bund, als wenn wir allein wären. Derjenige, der einen solchen Weg wählt, muss zu Vertrauen und Solidarität fähig sein. In einer Gemeinschaft zu leben bedeutet, zu nehmen, aber auch zu geben. Der zweite Weg besteht darin, in den Beziehungen zu den Starken zu improvisieren und den einen mit dem anderen zu erpressen. Das ist freilich ein gefährliches Spiel. Die tschechische Politik hat mit dem ersten Weg gewisse Schwierigkeiten. Ein bekannter tschechischer Politiker erklärte vor ein paar Jahren im Zusammenhang mit der Aufnahme der Tschechischen Republik in die EU: Fordern wir von der EU das Maximum dessen, was sie uns bieten kann und geben wir ihr auch nicht ein Quentchen mehr, als unbedingt notwendig sein wird. Eine Menge Menschen hat eine ähnliche Ansicht, aber kaum jemand formuliert dies derart unverfroren in der Öffentlichkeit. Es ist der Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes.
Worin kann wohl der Beitrag eines Landes bestehen, dessen politische Elite (oder zumindest ein Teil von ihr) derart orientiert ist? Wobei das Problem der EU darin besteht, dass sie sich entweder integrieren wird - sicherlich mit Fehlern und unter Schwierigkeiten – bzw. kleiner wird, zerfällt oder an Bedeutung verliert. Staaten, in denen die Klaus´sche Souveränitätsauffassung geltend gemacht wird, bedrohen die Integrität der Union. Faktisch bedeutet das, dass im Rahmen der EU zweierlei Standards der Bürgerrechte geschaffen werden: Für Anspruchsvolle und weniger Anspruchsvolle. Je weiter es in Richtung Osten geht, desto mehr setzt sich der zweite Standard durch (Großbritannien und seine Vorbehalte zur europäischen Integration sind selbstverständlich ein völlig anderer Fall). Für die Tschechische Republik wurden nicht die Homosexuellen-Ehe oder allzu weitreichende Sozialrechte zum Stolperstein, sondern der Grundsatz „Eigentum ist unantastbar“, welcher im zivilisierten Europa bereits ein paar Jahrhunderte gilt. Uns Tschechen hat diesen weniger anspruchsvollen Standard nun Václav Klaus erkämpft.
Es erhebt sich die Frage, was mit solchen Ländern geschehen soll. Staaten, die sich bezüglich des Standards der Bürgerrechte voneinander unterscheiden, können sehr wohl Bündnisse eingehen. Ein hübsches Beispiel ist die Allianz der westlichen Demokratien mit Stalins Russland während des Zweiten Weltkriegs. Integrieren können sie sich jedoch kaum. Sicher, es handelt sich um einen Grenzfall. Aber zweierlei Standards stellen auch in weniger krassen Situationen ein Problem dar. Die Aufnahme der Tschechischen Republik in die EU habe ich selbstverständlich begrüßt, unter anderem auch aus dem Grund, weil ich mir in einem den europäischen Standards verpflichteten Land sicherer vorkam. Weil aber bei uns der Grundsatz „Eigentum ist unantastbar“ nur mit dem Zusatz „manchmal“ gelten wird, bin ich jedoch bezüglich der Frage wehrlos: War die Erweiterung der EU um dieses Land zufälligerweise nicht ein wenig überstürzt?
Süddeutsche Zeitung 29. Oktober 2009
Übersetzung Sylvia Janovská