Klaus in Lidice

Der Zeitraum von Anfang Mai bis Ende Juni pflegt in Tschechien unerträglich zu sein. Jedes Jahr entfesselt sich eine nationalistische Hysterie, die von der schwachen Notwehr derer begleitet wird, denen ein derartiges Treiben gegen den Strich geht. Das erinnert mich an eine hübsche englische Horrorerzählung von einem Städtchen am Meer, dem jedes Jahr einmal die Leichen der Ertrunkenen entsteigen, um mit den Lebenden den Reigen des Todes zu tanzen.

Teil des Rituals pflegt auch der Jahrestag der Vernichtung von Lidice zu sein, der diesmal kein runder ist. Am Charakter des erwähnten Ereignisses gibt es keinerlei Zweifel: Es handelte sich um ein brutales Massenverbrechen, dessen Gründe sich die deutsche Okkupationsverwaltung aus den Fingern gesaugt hatte. Um einen Ausdruck der deutschen Hysterie, auf der Hitlers Politik basierte und die unabwendbar zum grauenhaften Zusammenbruch führte.

Anlässlich der Gedenkfeier in Lidice hat diesmal auch Staatspräsident Václav Klaus von sich reden gemacht. Er hat Probleme mit der einst von ihm gegründeten Demokratischen Bürgerpartei (ODS), die ihm untreu geworden ist. Die Ersatzparteien haben sich bislang nicht sehr bewährt. Deshalb ist es notwendig, sich vor dem Volk zu profilieren, notfalls mit Hilfe der Toten, die den Vorteil haben, dass sie sich nicht wehren können. Irgendwie mutet das leicht nekrophil an.

Der Grundgedanke der Rede von Klaus lautet: Das Ereignis, dessen wir gedenken, wurde zum „Katalysator der tschechisch-deutschen Beziehungen.“. „Die Lidicer Tragödie beendete in den Gedanken und Herzen der damaligen Generationen unseres Volkes die Bereitschaft, nach Kriegsende über die Fortsetzung des jahrhundertelangen Zusammenlebens mit den Sudetendeutschen nachzudenken.“

Und hier muss gestoppt werden. Erstens: Eine Angelegenheit sind die tschechisch-deutschen Beziehungen, die andere die Beziehungen zwischen den Tschechen und ihren einstigen deutschen Mitbürgern. Heute sind die tschechisch-deutschen Beziehungen fast ideal. Sie stützen sich auf die gemeinsame politische Erklärung, die jede Seite auf ihre Weise auslegt, wobei keine Seite dies der anderen vorwirft. Ein Problem gibt es mit den Sudetendeutschen.

Lassen wir beiseite, dass die Vernichtung von Lidice keine Angelegenheit der Sudetendeutschen war, sondern der deutschen Okkupationsverwaltung. Diese Mengen sind nicht deckungsgleich. Aber die Klaus´sche Auslegung der „Trennung“ ist ungeachtet dessen bemerkenswert, als Sache an sich. Versuchen wir, sie auf irgendeine ähnliche Angelegenheit des Alltagslebens zu applizieren, beispielsweise auf eine Scheidung. Im Prinzip sind dabei zwei Lösungen möglich: Entweder einigen sich die Partner unter oder ohne Mitwirkung eines Gerichts auf eine vernünftige und für beide Seiten annehmbare Teilung der gemeinsamen Dinge. Oder einer der Partner treibt - im Bedarfsfall unter Mitwirkung weiterer starker Kerle - den anderen auf die Straße ins Unwetter, nur so, ohne Mantel und in Pantoffeln.

Damit der Mensch die erste – also die zivilisierte – Lösung wählen kann oder sogar nicht auf der Trennung besteht, muss er fähig sein, einzuräumen, dass der andere imstande ist, sich für seine Sünden zu schämen, sie einzugestehen und sich zu bessern. Und er muss fähig sein, sich die Frage zu stellen, ob er nicht zufällig selbst mit seinem egoistischen und ungerechten Verhalten in der Zeit, in der noch etwas unternommen werden konnte (in unserem Fall in den Jahren 1918-1933), zu diesen Sünden beigetragen hat. Mit Bedauern stelle ich fest, dass weder das eine noch das andere geschehen ist.

Die „Lösung“, welche die tschechischen Politiker mit allseitiger Unterstützung im Jahre 1945 wählten, inspirierte sich leider am meisten an den Taten des Gegners. Es fanden ethnische Massensäuberungen statt, die in der Geschichte der böhmischen Länder keine Parallele haben. Die Zahl der Opfer ist nicht berechenbar. Die tschechischen und die deutschen Schätzungen weichen fast in zwei Größenordnungen voneinander ab. Das ist begreiflich. In einer Situation, in der man liquidiert wird, verrechnet man sich leicht.

Die Feierlichkeiten zum Kriegsende fanden in diesem Jahr im Zeichen des intensiven Kampfes gegen den Extremismus statt. In Lidice nahmen diesmal an ihm sogar die Extremisten selbst teil – mit den Fahnen der ehemaligen UdSSR, des verbotenen Kommunistischen Jugendverbandes sowie Porträts des südamerikanischen Banditen Che Guevara. Keiner der teilnehmenden Bosse bemerkte das. Präsident Klaus sagte dann am Rande den Journalisten, die Aktivitäten der Neonazis (also nicht aller Extremisten) müssten verurteilt werden. Er selbst wäre in dieser Angelegenheit weitaus strenger als manche Bürgermeister, Oberbürgermeister oder Minister. Diese haben angeblich Angst und wollen sich keine Feinde schaffen. Dabei geht es, füge ich hinzu, bei den Extremisten bislang um nicht allzu zahlreiche Grüppchen, deren Leader aus den Fehlern und der Ratlosigkeit der offiziellen tschechischen Politik Nutzen ziehen. Es ist merkwürdig, dass ihnen eine Hysterie die Stirn bieten soll, auf der sich die tschechischen Politiker von links bis rechts einig sind. Ihr Ergebnis muss nicht in der Unterdrückung des Extremismus bestehen – je nachdem, wie wir gerade den „Extremismus“ definieren (einige Politiker zeigten bereits das Bemühen, auch das Werfen von Eiern auf den Chef der tschechischen Sozialdemokraten Jiří Paroubek dazu zu zählen), sondern in der Unterdrückung der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit allgemein. Es ist schwer, sich des Gefühls zu entledigen, dass insbesondere die Meinungsfreiheit sowohl Klaus als auch Paroubek zuwider ist.

Lidové noviny, 15. 6. 2009
Übersetzung Sylvia Janovská