Hauptsache ist es, den Schritt zu halten
In die tönenden Feierlichkeiten anlässlich der Maitage des Jahres 1945, so wie sie meine Generation mehr oder weniger freiwillig mit kleinen Abwandlungen seit dem Kriegsende absolviert, mischen sich ab und zu störende Elemente. Gewöhnlich ist das erst im nachhinein der Fall, und es werden immer weniger. Dennoch ist es auch in diesem Jahr geschehen.
Einer Meldung der tschechischen Nachrichtenagentur ČTK zufolge hat die Polizei der Tschechischen Republik die Täter eines „Vorfalls“ vom Juni 1945 ermittelt. Aus dem Lager für die Deutschen (anfangs wurden sie nach deutschem Vorbild Konzentrationslager genannt, was jedoch bald in die taktischeren „Sammellager“ umgewandelt wurde) in Postoloprty waren damals fünf Jungen im Alter zwischen 12 bis 15 Jahren ausgebrochen, wobei unklar ist, ob sie sich nicht nur im benachbarten Garten Obst pflücken wollten. Sie wurden gefasst, brutal zusammengeschlagen und vor den angetretenen Deutschen zur Warnung erschossen. Der Kriminalbeamte, der gegenwärtig den Fall untersucht hat, war angeblich schockiert (interessant ist, was wir alles nicht wissen, weil wir es nicht wissen wollen!). Die zwei Hauptschuldigen wurden ermittelt. Beide sind selbstverständlich schon lange tot.
Dieser Fall ist freilich nur das Tüpfelchen auf dem i. In Postoloprty ereigneten sich derartige Dinge, dass sich letztendlich eine parlamentarische Untersuchungskommission mit ihnen befassen musste. Es wurden 763 „ohne Gerichtsurteil Erschossene“ (verstehe: Ermordete) entdeckt. Einigen Historikern zufolge waren es wesentlich mehr, zwischen 2000 und 3000 Menschen. Doch wer findet das heute heraus? Es hat sich vor langer Zeit zugetragen.
Die Parlamentskommission gelangte zu der Schlussfolgerung, dass die Handlungsweise der tschechoslowakischen Soldaten und Polizisten durch das Gesetz Nr. 115/1946 Slg. gedeckt ist, dem zufolge eine auf die gerechte Vergeltung für Taten der Okkupanten oder ihrer Helfershelfer abzielende Handlung auch dann nicht widerrechtlich ist, wenn sie sonst nach den geltenden Vorschriften strafbar wäre. Dem tschechoslowakischen Nationalhelden General Klapálek zufolge war die Handlungsweise der Mordenden sowohl „militärisch als auch menschlich verständlich“. Auch die Hauptakteure spürten keinerlei Verlegenheit. Einer von ihnen verkündete vor der Kommission: „Die Deutschen haben so viel Böses getan, dass wir ihnen das nie heimzahlen können, auch wenn ich jeden Tag Exekutionen durchführen würde… Wenn das deutsche Volk fähig war, 25 Millionen Menschen umzubringen, so ist es schwer, anders zu handeln, wenn wir mit ihm Schritt halten wollen.“ Dennoch wurde der Kommissionsvorsitzende nach der Machtergreifung der Kommunisten im Februar 1948 zur Sicherheit zum Tode verurteilt. Glücklicherweise gelang es ihm, rechtzeitig zu emigrieren.
Freuen wir uns, in welch schöner Zeit wir leben! Wir müssen mit den Mördern aus der SS nicht mehr Schritt halten. Alles haben wir uns klargemacht: Im Prinzip war es richtig, wie wir mit unseren deutschen Mitbürgern umgegangen sind. Es gab begreiflicherweise „Exzesse“, die wir zwar verurteilen (heute würden wir das nicht mehr tun, es gibt dafür ja auch keinen Grund). Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass in erster Linie die Deutschen selbst für sie verantwortlich sind. Das ist seit der Zeit des damaligen Ministerpräsidenten Václav Klaus, seines Außenministers Josef Zieleniec und ihrer historischen und medialen Gehilfen unsere Staatsdoktrin. Wir können jedes Mal im Frühling ungestört feiern – nur stolpert manchmal jemand auf dem Appellplatz, wo die Feierlichkeiten stattfinden, über einen aus der Erde ragenden menschlichen Knochen. Ich denke, dass das nicht mehr allzu sehr stört. Wir sind schon hart gesotten genug.
lidovky.cz - Online-Ausgabe der überregionalen tschechischen Tageszeitung „Lidové noviny“, 1. Juni 2009
Übersetzung Sylvia Janovská