Die Tschechen und das Problem des kleinen Volkes

Wenn wir über das Problem des kleinen Volkes sprechen wollen, muss uns zuerst bewusst werden, dass das Problem des kleinen Volkes nicht etwas ist, was zwingend zu einem kleinen Volk gehört. Es gibt in Europa kleine Völker (die skandinavischen Völker, die Niederländer, die Portugiesen, die Schweizer), die nicht am Problem des kleinen Volkes leiden. Das Problem des kleinen Volkes entsteht dann, wenn sich ein Volk in seiner Kleinheit unbehaglich fühlt. Dieses Gefühl der Unbehaglichkeit ist oft durch die äußeren Umstände bedingt – es wird durch das Gefühl der Bedrohung hervorgerufen, welches bei kleinen Völkern leider zumeist eine mehr oder weniger reale Grundlage zu haben pflegt. Der sich daraus ergebende Stress und die entstehende Angst deformieren nachfolgend die Sicht der nationalen Gemeinschaft auf ihr Umfeld und die Welt überhaupt sowie ihre auf dieser Grundlage basierende Handlungsweise. Es gab und gibt noch immer große Völker, die unter dem Problem des kleinen Volkes litten oder noch leiden, unter dem Gefühl der tödlichen Bedrohung, das seine Angehörigen des Urteilsvermögens beraubt. Die Deutschen haben sich dieses Problems erst entledigt, nachdem sie den furchtbarsten globalen Krieg, den die Welt bisher erlebt hat, entfesselten und verloren. Das zweite große europäische Volk – die Russen – wird bis heute vom unbewältigten Problem des kleinen Volkes geschüttelt, und es ist eine Frage, was dieses mit ihm und der ganzen Welt in Zukunft machen wird. Allgemein gilt jedoch: „Klein zu sein“ wird dann zum Problem, wenn es irgendein Volk als Problem gelten lässt. Sobald jedoch das Problem einmal als solches positioniert ist, handelt es sich immer um ein unlösbares Problem. Das Problem des kleinen Volkes bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Komplex des kleinen Volkes.

Ich möchte deshalb einige Worte dazu sagen, wie diese Existenzunsicherheit - in der sich in Mitteleuropa das „tschechische Problem“ als ein Problem, das die Tschechen mit sich selbst haben, herausbildete, behauptete und wucherte - entstanden ist und wie sie sich entwickelt hat: Ab Ende des achtzehnten Jahrhunderts begannen die Ideen der großen bürgerlichen Revolutionen die geistige und politische Entwicklung in Mitteleuropa zu beeinflussen. Diese Ideen waren ein Produkt und eine Errungenschaft der tausendjährigen europäischen Entwicklung, d. h. der lateinisch-christlichen Zivilisation. Ihr Kernstück war der Gedanke der bürgerlichen Gleichstellung und ihr Teilstück das Ideal der Gemeinde, in der die politischen Kompetenzen auf alle ihre Mitglieder, Bürger ausgeweitet werden und in der die horizontalen Beziehungen in der Gemeinschaft den vertikalen Beziehungen gleichgestellt sind. Die liberalen und demokratischen Ideen der bürgerlichen Revolutionen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts erfordern einen genau definierten und umgrenzten Rahmen der Gemeinschaft – diese Gemeinschaft stellt gerade die Gemeinde, der moderne Staat dar. Wichtig ist dabei, dass die Gemeinde in erster Linie ein praktisches, für den Bürger nützliches Gebilde ist oder es sein soll, und zwar in einer Weise, die den Bürger in die Lage versetzt, diese Nützlichkeit rationell abzuwägen. Zugleich bildet sich jedoch auch eine emotionale Verbindung, mittels der der Bürger „seiner Gemeinde“ verhaftet ist, der moderne Patriotismus.

Dieser Prozess erfasste auch Mitteleuropa und die Habsburger Monarchie. Letztere durchlief insbesondere ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts so etwas wie einen langsamen und zaghaften Umbau – eine inkonsequente und niemals vollendete Umgestaltung. Das Grundproblem bestand darin, dass es die Monarchie nie schaffte, für die Mehrheit ihrer Einwohner zur „Gemeinde“ im modernen Sinne des Wortes zu werden. Verhindert wurde dies durch ihr eigentliches Wesen – es handelte sich um ein morsches Staatsgebilde, ein Relikt des Mittelalters, in dem die katholische Religionslehre zur überlebten universalistischen Staatsideologie degradiert war. Gerechtigkeitshalber muss hinzugefügt werden, dass die Habsburger Monarchie überdies ein bisschen Pech hatte: In dem Vielvölkerstaat hatte schließlich eine ganze Reihe nationaler Gemeinschaften (Rumänen, Serben, aber auch die Deutsch-Österreicher) in der Nachbarschaft ein sich entfaltendes Staatsgebilde vor Augen, welches ihnen gefühlsmäßig wesentlich näher stand, was sie leichter für das ihre halten konnten. Andere Völker, vor allem die Polen, verstanden Österreich aus begreiflichen Gründen nur als Umsteigestation zum Wiederaufbau eines eigenständigen Polen. Für die Tschechen waren einerseits die historischen Reminiszenzen an den einstigen eigenständigen böhmischen Staat im Mittelalter maßgebend, andererseits die gemeinsame Sprache. Diese tschechische Auffassung von der Nation war in der gegenwärtigen Zeit oftmals und ein wenig ungerecht der Kritik ausgesetzt: Die Sprache als Kommunikationsmittel ist ein äußerst relevantes Verbindungselement zwischen den Menschen. Deshalb besteht kein Grund, die Legitimität der auf ihr begründeten Gemeinschaft in Zweifel zu ziehen. Die Probleme im tschechischen Umfeld entstanden nicht, weil der sprachliche Gesichtspunkt angewandt wurde, sondern weil gewissermaßen zeitgleich und den Umständen entsprechend sowohl der sprachliche als auch der historische Gesichtspunkt geltend gemacht wurde. 1)

In dieser Situation begann der lange und auf seine Art bewundernswerte Kampf der tschechischen nationalen Gemeinschaft um den Aufbau einer eigenen Gemeinde, ein Kampf, dessen Anfangsphase wir nationale Wiedergeburt nennen, und der eigentlich erst durch die Entstehung des eigenständigen tschechischen Staates im Jahr 1993 vollendet wurde. Von Beginn an war von Bedeutung vor allem

- dass sich die tschechische Politik und die tschechischen Überlegungen zur Politik von Anfang an zu den liberalen und demokratischen europäischen Gedanken bekannten (hauptsächlich im Werk des Begründers der tschechischen Journalistik, Karel Havlíček)

- dass den tschechischen Politikern und politischen Denkern die Zugehörigkeit zur europäischen christlichen Tradition und der mitteleuropäische Kontext bewusst waren, den die tschechische Politik berücksichtigen muss (František Palacký) und letztlich auch die globalen Dimensionen, in denen sich die tschechische Politik bewegen sollte (T. G. Masaryk).

Und schließlich kann man den tschechischen Widerstand gegen den unfruchtbaren und hysterischen Radikalismus nicht übergehen, den politischen Realismus als Programmpostulat und insbesondere die systematische und prinzipielle Kritik als schöpferischen Bestandteil des nationalen Lebens (Havlíček, Masaryk).

Ein großes Problem der tschechischen Politik bestand dabei darin, dass sie bis zum Jahr 1918 über keine überdachende Selbstverwaltungsbasis verfügte. Es existierten lediglich die politischen Parteien, die Fraktionen im Reichsrat und in den Landtagen, verschiedene Vereine und Verbände – die komplette politische Verbindungsklammer fehlte. In dieser Situation hatte die tschechische Politik Schwierigkeiten mit der Artikulierung der politischen Forderungen, weshalb im tschechischen politischen Leben Gefühlsregungen und Massenleidenschaften eine zu große Rolle spielten. Aus diesem Grund hatte der Kritizismus von Havlíček und Masaryk bei der Bildung der modernen tschechischen Gemeinde eine derart große Bedeutung - angefangen von Havlíčeks Auftritten gegen den primitiven Nationalismus und das falsche Slawentum bis zu Masaryks Ringen um die sachliche Konzeption der nationalen Vergangenheit und seinen Kampf gegen den Antisemitismus.

In einer Gesellschaft, die keinen - die politische Kommunikation im Rahmen der Gemeinde ermöglichenden - eigenen institutionalisierten Rahmen hat, steigt die Bedeutung der Ideologie. Ohne Ideologie ist das politische Leben unvorstellbar. Die Ideologie hat in der Politik ihre nützliche Rolle bei der Formulierung der gemeinsamen Werte und Ziele. Zugleich bedeutet sie jedoch immer eine Reduktion und bestimmte Deformation und muss deshalb unabhängiger Kritik ausgesetzt sein.

Während der politischen Entwicklung und des Aufbaus der Prämissen der tschechischen Gemeinde verschafften sich nach und nach zwei Varianten der nationalen Ideologie Geltung: Beide hatten im Prinzip einen Legitimierungscharakter – sie sollten der tschechischen Gesellschaft gewissermaßen eine gültige Eintrittskarte in die Gesellschaft der hochentwickelten europäischen Völker ausstellen. Ihre Aufgabe bestand in der Stärkung des Selbstbewusstseins der tschechischen nationalen Gesellschaft und zugleich auch in der emotionalen Annäherung der Werte, zu der sich die tschechische Politik bekannte.

Für die erste Phase der tschechischen Wiedergeburt war die slawische Ideologie charakteristisch. Am deutlichsten wurde sie von Palacký, Šafařík und Kollár formuliert. Ihre Grundthese lautete: Das, was der europäische Westen in den letzten Jahrhunderten so schwer und mühselig ergründet, ist den „Slawen“ (und somit auch den Tschechen) seit Urzeiten eigen. Die ursprüngliche slawische Gesellschaft, wie sie beispielsweise von der Grünberger Handschrift erfasst wird, war vom Wesen her demokratisch. Diese Ideologie enthielt ein massives Element der Selbstidealisierung und Selbstzufriedenheit. Sie ist ein sehr schönes Produkt des Komplexes des kleinen Volkes, das sich selbst als schwach und bedroht empfindet, es aber nicht wagt, auf eigenen Beinen zu stehen und sich lieber zu einem großen, übergreifenden Ganzen bekennt – dem Slawentum. Weil dieses slawische Ganze in erster Linie Russland bedeutete, drohte dem tschechischen Slawentum die Lockerung der Verbindungen zu den europäischen Quellen unseres geistigen Lebens. Es ist ein großes Verdienst der antretenden tschechischen wissenschaftlichen Generation der achtziger Jahre (des 19. Jahrhunderts) und vor allem das Verdienst Masaryks, dass sie die Überlebtheit und Falschheit dieser Ideologie nachgewiesen haben.

Während des I. Weltkriegs entwickelte sich die demokratische und westliche Ideologie. Diese ging von der Vorstellung der europäischen und Weltgeschichte als der eines Kampfes zwischen Theokratie und Demokratie aus. In diesem Ringen stehen die Tschechen während ihrer ganzen Geschichte – angefangen von der Hussitenbewegung - auf der Seite der Demokratie. Ihr Engagement in der kriegerischen Auseinandersetzung auf der Seite der Kräfte der Demokratie, auf der Seite der Entente, ist demnach logisch. Die Tschechen werden dadurch zu einer Art Vorhut der westlichen Demokratie in den rückständigeren Gebieten Mitteleuropas, zu einem Bollwerk des Westens gegen die vom besiegten Deutschland und Österreich repräsentierten regressiven Kräfte. Diese Ideologie entwickelte Masaryk in der politischen Schrift „Nová Evropa“ 2)(Das neue Europa), ihre Ansätze sind jedoch bereits in seinem Meisterwerk „Rusko a Evropa“ 3)(Russland und Europa) zu finden.

Diese Ideologie hatte zweifelsohne ihren realen Ausgangspunkt und eine positive Konsequenz: Die tschechische politische Repräsentation im Exil stellte sich in dem Kriegskonflikt auf die richtige Seite. Und die Verbundenheit mit den hochentwickelten demokratischen Staaten (zu denen Deutschland damals noch nicht gehörte) und die Bekennung zu den Werten, zu denen diese sich bekannten, hatte zweifelsohne positiven Einfluss auf die Formung der tschechischen Politik. Zugleich lieferte aber die überexponierte Vorstellung des „Bollwerks der Demokratie“ in Mitteleuropa die ideologische Grundlage zu politischen Taten, in denen sich der Komplex des kleinen Volkes reflektierte, das Angst hat und annimmt, dass es durch autoritäre Maßnahmen größer werden kann, und diese es von der Angst befreien werden. Die tschechoslowakistische Ideologie ermöglichte es den Tschechen, (vorübergehend) die langjährigen Bemühungen um die Einverleibung der Slowakei erfolgreich abzuschließen. Sie glaubten, im Demokratismus die Legitimierung zur Annexion ausgedehnter deutscher, ungarischer und polnischer Gebiete zu finden. Die Zugehörigkeit zu einem vom Wesen her demokratischen Staatsgebilde sollte für diese Volksgruppen zugleich eine Ehre und ein ausreichender Ersatz dafür sein, dass sie außerhalb ihrer Nationalstaaten leben müssen bzw. im Fall der Slowaken, dass sie die Verwaltung ihrer Angelegenheiten nicht in die eigenen Hände nehmen dürfen.

Die faktische Folge all dieser Maßnahmen war das genaue Gegenteil von dem, was die Tschechen davon erwartet hatten. Die Instabilität und Ungewissheit des neuen Staatsgebildes hatte sich dadurch nicht verringert, sondern vergrößert: In der Stunde der Prüfung wandten sich alle annektierten Gruppen gegen dieses und führten - freilich im direkten oder indirekten Zusammenwirken mit Hitler – sein Verderben herbei.

Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass diese Ideologie in der Geschichte des tschechischen politischen Denkens und der tschechischen Politik eine Katastrophe bedeutet hätte. Eine Katastrophe war lediglich die Tatsache, dass die weitere Entwicklung in unserem geopolitischen Bereich dazu führte, dass sie lange Zeit keiner kritischen Analyse und keiner kritischen Revision nach dem Vorbild Masaryks unterzogen werden konnte. Nach der kurzen, aber blutigen Episode der nazistischen Okkupation, welche die tschechische nationale Gesellschaft zu einer weiteren, diesmal äußerst gewaltsamen Demonstration des Komplexes des kleinen Volkes provozierte – zu brutalen Maßnahmen gegen die Deutsch-Böhmen und die Ungarn – folgten vierzig Jahre der russischen Annexion, deren Gewicht und Wesen bis heute nicht korrekt aufgeklärt worden sind. Wichtig ist, dass eine freie Diskussion auch in der relativ liberalen Ära des ersten Verfalls der russischen Herrschaft in den sechziger Jahren nicht möglich war: Zum einen kontrollierte der kommunistische Apparat die Zensur und die repressiven Einheiten, zum anderen war die Diskussion der privilegierten Schicht der kommunistischen Reformer vorbehalten, die sich in dieser Zeit schrittweise der wissenschaftlichen Institutionen und Massenmedien bemächtigten. Sie hatten das Monopol, insofern es sich um den Zugang zu den Quellen handelte und setzten sich dabei erbarmungslos mit jeder nichtkommunistischen Opposition auseinander, die versuchte, sie zu kritisieren. Ein freier Dialog über die Vergangenheit war im Prinzip ausgeschlossen, und auch in der kurzen Phase des totalen Zerfalls der russischen Herrschaft in der Tschechoslowakei im Jahr 1968 stand diese Angelegenheit aus verständlichen Gründen nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auch aus diesem Grund machte die kritische Debatte über unsere neuzeitliche Geschichte keine großen Fortschritte.

Der Komplex des kleinen Volkes bewirkt, dass sich die nationale Gemeinschaft nicht mit vernünftigen Dingen beschäftigt, sondern mit der unlösbaren Aufgabe, wie es machbar wäre, größer zu sein, als sie in Wirklichkeit ist. In diese Richtung verweisen auch verschiedene konfuse Theorien wie jene, der zufolge das tschechische Volk das Beispiel einer Nation ist, die sich – obwohl an der Peripherie Europas situiert – bemüht, zum europäischen Zentrum zu werden, was ihr manchmal auch gelingt. Ein erwachsenes (wenn auch kleines) Volk weiß, dass die Peripherie auf ihre Art und Weise wichtig ist, und eine ehrliche Peripherie zu sein mehr ist als ein falsches Zentrum zu sein.

Ein Ausdruck des Komplexes des kleinen Volkes ist auch die Suche nach Größe, die nachweislich und korrekt nicht in der Gegenwart zu erreichen ist, in vergangenen Zeiten: Einen derartigen Charakter hatte die tschechische exaltierte und unsachliche Verherrlichung des Hussitentums. Und einen ähnlichen hatte auch die romantische Selbstauffassung der Ungarn als die eines Volkes, das Europa mit dem eigenen Brustkorb vor dem angriffslustigen Orient schützt.

Der Komplex des kleinen Volkes zeigt sich auch in der emotionalen Überschätzung der eigenen Bedeutung in spannungsreichen historischen Epochen: Ernest Denis zitiert in seiner Arbeit über die tschechische Geschichte aus J. A. Helferts Erinnerungen folgendes Erlebnis, das sich während des Pfingststurms des Jahres 1848 abspielte. Irgendein junger Kerl schleppte aus einem Haus eine Kredenz hinaus, offenbar um daraus das Fundament für eine Barrikade zu machen. Zwei Frauen (möglicherweise die Eigentümerinnen) versuchten, ihn daran zu hindern, und er schrie sie hysterisch an – lasst mich in Ruhe, ganz Europa blickt auf uns! 4) Erstaunlicherweise erklingt das, was im Jahre 1947, an der Schwelle des Kalten Krieges, in der Zeitschrift „Dnešek“ (Heute) Antonín Klatovský geschrieben hat, genauso: „Die Entwicklung der gegenwärtigen Ereignisse hat uns direkt in den Brennpunkt des Weltgeschehens gerückt. Aller Augen sind auf uns gerichtet... Uns wurde eine schwere, aber unermesslich schöne Aufgabe auferlegt: An einem kleinen Musterbeispiel zu beweisen, dass die Teilung der Welt in zwei unversöhnliche Lager keine unausweichliche Notwendigkeit ist, sondern dass es sich nur um ein Missverständnis handelt.“ 5)

Der Komplex des kleinen Volkes führt häufig zu politisch unmoralischem Verhalten: So überspannten die Ungarn im neunzehnten Jahrhundert faktisch die „panslawistischen“ Momente der tschechischen Politik und denunzierten mit ihrer Legitimierungsideologie – Wir sind diejenigen, die Europa vor der Gefahr aus dem Osten beschützen, vor allem vor der Gefahr des Panslawismus – ihre tschechischen Nachbarn beim mächtigen deutschen Oheim. Die Tschechen blieben freilich den Ungarn nichts schuldig und ihre Legitimierungsideologie aus der Zeit der Ersten Republik – die Tschechoslowakei als Bollwerk der Demokratie gegen die Kräfte der Reaktion, Aristokratie und Theokratie – bedeutete u. a. wiederum die Denunziation der Ungarn bei den Siegermächten.

Der Komplex des kleinen Volkes widerspiegelt sich gleichfalls in der tschechischen Passion für die Erkämpfung vergangener Schlachten. Wie viele Menschen sind heute bereit, in den Kampf des Jahres 1938 zu ziehen! Diese Vorliebe hat ihre als Alibi dienende Kehrseite. Man sagt mit ihr eigentlich: Unsere derzeitige Misere ist nicht in unserer Kompetenz und in unserer Verantwortung – sie wurde von unseren Vorfahren verschuldet, weil diese nicht im Jahr 1938 (1948, 1968) gekämpft haben. Zudem belegt diese Passion auch eine unsachliche Geschichtsauffassung: Der tschechische Kämpfer in vergangenen Schlachten erwägt hysterisch und kann sich nur zwei Dinge vorstellen: entweder den bewaffneten Kampf oder völlig die Hände in den Schoß zu legen. Dass im Jahr 1938 (und auch im Jahr 1968) der bewaffnete Widerstand keine Erfolgsaussichten hatte und im Prinzip sinnlos gewesen wäre, bedeutete noch nicht, dass die tschechische Gesellschaft zu Verfall, Kapitulantentum und unappetitlichem Verhalten, das sie in der Zeit der Zweiten Republik sowie in der Zeit der beginnenden „Normalisierung“ vollauf bewies, das Plazet erhalten hätte.

Zum Schluss möchte ich betonen: Der Komplex des kleinen Volkes ist weder ein unbehebbarer Defekt noch eine tödliche Krankheit – allerdings nur in dem Fall, wenn er behandelt wird. Die Therapie besteht in der rationalen Sicht der Probleme, die sich das betroffene kleine Volk selbst bereitet, ihrer sachlichen Analyse. Dabei kann uns das als Leitgedanke dienen, was im Jahr 1846 der Magnus parens der tschechischen Journalistik, Karel Havlíček, in der Polemik mit der slawischen Megalomanie seiner tschechischen Mitbürger geschrieben hat: „Wir werden nicht bestreiten, dass es ein großes Glück ist, Mitglied eines großen, weitverbreiteten Volkes zu sein, so wie sich vielfach ein kleiner Mensch wünscht, groß zu sein. So wie wahrscheinlich niemand gute Eigenschaften, Macht, Vermögen usw., wenn er sie haben könnte, von sich weisen würde; ansonsten wird aber anstandshalber von einem vernünftigen Menschen erwartet, dass er mit seinem Schicksal zufrieden wäre und mit dem sich zufriedengebend, was er hat, nicht das begehrt, was er nicht haben kann.“ 6)

Dem ist nur schwer etwas hinzuzufügen.

(Vorgetragen auf dem internationalen Seminar „Nachbarschaft versus Nationalismus in Europa – Legenden und Tatsachen“, das von der Bernard Bolzano- und der Hanns Seidel-Stiftung vom 14.-16. Oktober 1998 in Jindřichův Hradec /Neuhaus/ veranstaltet wurde.)

 

1) Vergleiche: István Bibó, Az európai Egyensúlyról és Békéről, in Válogatott Tanulmányok I. Teil, Verlag Magvető Könyvkiadó 1986, Seiten 507-511.

2) T. G. Masaryk, „Nová Evropa“ (stanovisko slovanské) /Das neue Europa, Der slawische Standpunkt/, Nachtrag 1994, Seiten 61-78.

3) T. G. Masaryk, „Rusko a Evropa“ (Russland und Europa), Verlag Laichter 1930-33, I, 238 ff, II, 624 ff,II, 635, 638 ff.

4) Ernest Denis, „Čechy po Bílé hoře“ (Böhmen nach dem Weißen Berg), Verlag F. Šimáček 1911, II-2, Seite 385.

5) Antonín Klatovský, „Naše politické strany a demokracie“ (Unsere politischen Parteien und die Demokratie), Zeitschrift „Dnešek“ 39/1947-8

6) Karel Havlíček, „Slovan a Čech“ (Slawe und Tscheche), zitiert gemäß K. Havlíček Borovský, „Lid a národ, úvahy a články z let 1845-51“ (Volk und Nation, Überlegungen und Artikel aus den Jahren 1845-51),Verlag Melantrich 1981, Seite 66.