Nationalismus und Populismus in der tschechischen Politik

Einleitend möchte ich ein paar Worte zur Definition der Begriffe sagen: Ich möchte betonen, dass in der Zeit, in der sich die modernen Nationen in Mitteleuropa bildeten, der Nationalismus mit dem Bestreben um die Demokratisierung der Gesellschaft verbunden war. Während des Emanzipationsprozesses der mitteleuropäischen Völker kam es jedoch - wie es bei Emanzipierungsprozessen üblich ist - zu Konflikten und Reibungen, die die Qualität der angestrebten Demokratie beträchtlich verzerrten. Die Konflikte entstanden, weil die sprachlich-nationale und territoriale Abgrenzung der entstehenden politischen Nationen nicht deckungsgleich war. Zudem beanspruchten die politischen Nationen Mitteleuropas – größtenteils infolge historischer Reminiszenzen - regelmäßig auch solche Territorien, die schon von einer anderen Nation bewohnt waren. Das Grundprinzip dieser „deformierten“ Demokratie war: Freiheit und Demokratie für uns, Unterdrückung für die anderen.

In der politischen Entwicklung der mitteleuropäischen Nationen im 19. und 20. Jahrhundert entstanden dann seltsame „Berechtigungsideologien“, die die Deformationen der Demokratie legitimieren sollten. Die tschechische Variante, auf der der jetzige tschechische nationalistische Populismus basiert, ist in ihrer raffinierten Listigkeit vielleicht die eigenartigste und originellste in dieser Region.

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Ihr Ausgangspunkt ist die Ideologie der Begründer der ersten Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1918, die vor allem im politischen Pamphlet „Das neue Europa“ des ersten Staatspräsidenten T. G. Masaryk zusammengefasst ist. Der neue „tschechoslowakische“ (praktisch tschechische) Staat sollte demnach eine Festung der „westlichen“ Demokratie in Mitteleuropa sein, die zur Verteidigung vor den Erzfeinden dieser Demokratie bestimmt war: Zu den Erzfeinden gehörte der Katholizismus (für manche – allerdings nicht für Masaryk – dann allgemein das Christentum), die Aristokratie und die Deutschen (auch Deutschösterreicher) als vom historischen Standpunkt aus in ihrem Wesen antidemokratische Kräfte. Die Gründe dieser Ausgrenzung sind „pragmatisch“. Die katholische Kirche und die Aristokratie waren mit der alten k. und k. Monarchie verbunden, die abgebaut werden musste. Das galt auch für die Deutschen, die noch dazu einen bedeutenden Teil der Bevölkerung des neuen Staates (3,2 Millionen von 15,7 Millionen Einwohnern) stellten. Irgendwie musste man begründen, warum sie unfreiwillige Bewohner eines nationalen „tschechoslowakischen“ Staates sein sollten. Das Recht der Tschechen sollte in diesem Sinn das Recht der demokratischeren Nation sein. Das war im Grunde die Staatsideologie der ersten Tschechoslowakischen Republik. Es war zwar erlaubt, diese zu kritisieren, aber eine wirkliche und konsequente Kritik fand vom demokratischen Standpunkt aus so gut wie nicht statt.

Masaryks Nachfolger Edvard Beneš reicherte während des 2. Weltkrieges diese Ideologie noch mit sozialistischen Elementen an, indem er sich aus politischem Opportunismus durch die Ideologie des russischen Kommunismus insbesondere in der Vorstellung der vom Staat geleiteten Einschränkung des Privateigentums und des freien Unternehmertums sowie der „Vereinfachung“ der Struktur des politischen Lebens inspirieren ließ. Die Folge der unmenschlichen Maßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung in der CSR nach Kriegsende (die Sudetendeutschen wurden zuerst um ihr Eigentum und um fast alle Menschenrechte beraubt und dann ins vernichtete Deutschland deportiert) auf das innenpolitische Leben in der Tschechoslowakei war, dass sich auf diesem Wege das Präzedens durchgesetzt hat, die Gültigkeit der Bürger- und Menschenrechte könne dem Interesse der Nation und des Staates untergeordnet werden. In einer noch radikaleren Form übernahmen dann die tschechoslowakischen Kommunisten diese Ideologie und richteten sie gegen ihre Schöpfer (mit dem Vorwurf, sie seien nicht radikal genug gewesen). In diesem Zustand war die tschechische offizielle Staatsdoktrin im Jahr 1989, als sich die Russen aus Mitteleuropa zurückzogen und infolgedessen das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei zusammenbrach.

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Ich wiederhole die wichtigsten Komponenten der tschechischen nationalen Ideologie. Das Wesen des tschechischen Nationalismus besteht im folgenden Paradigma: Die Tschechen sind in Mitteleuropa darin einzigartig, dass sie – im Unterschied zu allen anderen mitteleuropäischen Nationen – überhaupt keine Nationalisten sind. Die historische Rolle der Tschechen soll es sein, eine feste Burg der Demokratie in Mitteleuropa zu schaffen. Zu dieser Mission gehört der ständige Kampf mit ihren Feinden, den Katholiken, Aristokraten und Deutschen. (Der tschechischen Auffassung nach teilen sich in dieser Ideologie die mitteleuropäischen Völker – und leider ist es nicht ausschließlich eine tschechische Auffassung – in Gewinner und Verlierer). Zu den Gewinnern gehören die Tschechen, Slowaken und Polen. Zu den Verlierern die Deutschen, Österreicher und Ungarn. Die Aufteilung hängt mit dem Ausgang der letzten beiden Weltkriege zusammen. Das Element des offenen Kampfes ist jetzt, nachdem alle diese Staaten Mitglieder der Europäischen Union sind, ein wenig gedämpft und aktualisiert sich nur bei Spannungen – z.B. wenn man aus den Deutschen oder Österreichern eine Entschädigung herauszupressen wünscht. Was die katholische Kirche betrifft, so hat der tschechische „Kulturkampf“ im Streit um den Veitsdom auf der Prager Burg Gestalt angenommen (es handelt sich um die größte und schönste gotische Kathedrale Böhmens), den die Kommunisten Mitte der fünfziger Jahren angeblich für das tschechische Volk der katholischen Kirche konfisziert und „nationalisiert“, d. h. verstaatlicht, hatten. Die gegenwärtigen tschechischen Behörden beharren auf dieser Verstaatlichung, obwohl das heutige tschechische Volk zu guten 80 Prozent atheistisch ist und nicht klar ist, was es mit einer katholischen Kirche anfangen wird. Was die Aristokratie betrifft, so existieren bei uns nur Bruchstücke dieser Gesellschaftsschicht (so ist z. B. der Gebrauch von Adelstiteln strafbar). Nach der politischen Wende kam es zudem zu zahlreichen Rechtsstreiten um die Rückstellung ihres nach dem Jahr 1945 konfiszierten Vermögens. Und dann ist hier das größte Problem: Die Art und Weise, wie die CSR nach dem Zweiten Weltkrieg mit der riesigen deutschen „Minderheit“ abgerechnet hat. Die Schwierigkeit des Problems besteht darin, dass es sich praktisch um ein Massenverbrechen gehandelt hat, die Möglichkeiten einer praktischen Wiedergutmachung jetzt jedoch sehr beschränkt sind. Dennoch hat man immer das deutsche und das österreichische Beispiel vor Augen (eine unendliche Kette von Entschuldigungen und Entschädigungen für das Unrecht im Zweiten Weltkrieg praktisch schon in der dritten Generation), und dass die Rückgabe des von den Kommunisten konfiszierten Eigentums bei uns so geregelt ist, dass nicht nur die aus dem Land deportierten Deutschen, sondern sehr oft auch die, die damals in Tschechien bleiben konnten, davon ausgeschlossen sind. Daraus nährt sich das schlechte Gewissen der tschechischen Politik.

Wichtig ist, dass sich in allen diesen Punkten die drei größten tschechischen Parteien (die konservative ODS, die Sozialdemokraten und die Kommunisten) völlig einig sind. Alle drei wetteifern nur darum, wer von ihnen in dieser Hinsicht konsequenter und energischer auftritt. Wer zurückhaltender handeln will, wird von den zwei anderen heftig attackiert, denn hier geht es um die Wählerstimmen. Und für die desorientierte Öffentlichkeit ist das anziehend - ein klassisches Beispiel des Populismus.

Hier muss erwähnt werden, dass unmittelbar nach dem Umsturz in der tschechischen Gesellschaft der gute Wille zur Aussöhnung vorhanden war, und manche versucht haben, diese nationalistische Ideologie einer kritischen Revision zu unterziehen. Selbstkritisch muss ich gestehen, dass dieser Versuch, an dem auch ich mich beteiligt habe, mit einem totalen Krach endete, der sich nicht nur auf intellektuelle Kreise beschränkte. Es gelang nicht, diese Frage in die Politik zu transponieren, und auch die akademischen Institutionen (Universitäten, Akademie der Wissenschaften) werden vorwiegend von den Nationalisten beherrscht. Nur in den Medien bleibt noch ein kleiner Raum, der jedoch ungefähr so groß ist, wie der Raum für die wirkliche Opposition in Putins Russland.

Die unangenehme Folge dieser nationalistischen und populistischen Ideologie ist, daß sie uns von unseren westlichen Nachbarn (Deutschland und Österreich) isoliert, weil sie praktisch gegen diese gerichtet ist (sie sind angeblich – d. h. Deutschland und Österreich - wenn nicht gerade gefährlich, zumindest unglaubwürdig). Diese Ideologie ist überdies gegen Europa und gegen den Westen im Allgemeinen gerichtet, weil sie auf unsachlichen und unmoralischen Prinzipien basiert. In einer Zeit, in der die Welt wieder recht gefährlich wird, in der sich die Gefahr des islamischen Radikalismus zu Wort meldet und in der für die osteuropäischen Länder die russische Gefahr wieder aktuell wird, ist sie ein paralysierendes Gift, das die Tschechen gegen reale Gefahren wehrlos macht, indem es sie zur Verteidigung gegen fiktive Bedrohungen mobilisiert.

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Zum Schluß möchte ich noch drei Dinge betonen: Mein Beitrag war kritisch. Der Sinn der Kritik besteht jedoch nicht darin, das Objekt der Kritik zu erniedrigen, sondern zu ermöglichen, dass die kritisierte Gesellschaft in Zukunft die beschriebenen Fehler vermeidet. Und zweitens: Mein Beitrag bezieht sich nicht auf tschechische Angelegenheiten, weil die Tschechen auf dem Territorium Mitteleuropas die Schlimmsten wären, sondern weil es mein Thema war und zugleich eine Sache, die mir aus begreiflichen Gründen am Herzen liegt. Und drittens: Ganz Mitteleuropa verdient in dieser Hinsicht Kritik. Es sollte jedoch die Regel sein, dass jeder mit der Kritik bei sich selbst beginnt.