1945-48: Der tschechische Weg vom demokratischen zum attributlosen Sozialismus

Die zu behandelnde grundlegende Frage ist die nach der Art und Weise in der die Tschechen (im Unterschied zu Polen, Ungarn, Deutschen) in das sowjetische Imperium eingegliedert wurden. Auffallend ist hierbei vor allem die Freiwilligkeit: der Prozess genoss eine unvergleichlich größere Unterstützung in der Öffentlichkeit als in den anderen betroffenen Staaten der Region. Die Bolschewisierung (Russifizierung) der ČSR hatte einen quasi "demokratischen" Charakter.

1. Beschreibung der Umstände. Protagonisten.

Die Tschechoslowakei (ČSR): Die Tschechen unterlagen im 19. Jahrhundert einem ähnlichen Prozess wie kurz davor die Deutschen und die Ungarn: Entstehung und Durchsetzung einer durch ethnische Zusammengehůrigkeit definierten politischen Nation.

Zum Prozess der nationalen Emanzipation gehörte zwangsläufig das Streben nach eigenständiger staatlicher Realisation. Dabei entstanden in Mitteleuropa viele Probleme: Verschiedene Volksgruppen lebten untereinander vermischt, bei der Definition des Staatsgedankens entstanden Konflikte zwischen historischen und natürlichen Prinzipien. Besonders die kleineren in diesem Gebiet beheimateten Völker setzten ihre Staatlichkeit regelmäßig mit Hilfe der Stärkeren, im offenen Konflikt mit ihren Nachbarn und meist auf deren Kosten, gewaltsam durch. Die damit entstandene neue geopolitische Ordnung enthielt innere Spannungen, war immer bedroht und selten stabil.

Dies gilt auch für die ČSR: die tschechische Staatlichkeit wurde mit Einbeziehung der von den Deutschen bewohnten Gebiete realisiert, die Gründung einer fiktiven "tschechoslowakischen" Nation bedeutete den Anschluss der von den Slowaken bewohnten Gebiete. Das alles unterstützten die Siegermächte des ersten Weltkrieges. So wurden die Keime zukünftiger Konflikte geboren. Sinn dieses Staatsgebildes sollte die Sicherung der tschechischen politischen Nation gegenüber Deutschland und gegenüber einer Erneuerung der Österreichisch-ungarischen Monarchie sein. Der Zusammenbruch des Staates unter dem Druck Hitlers 1938 war für die tschechische politische Elite und für Präsident Beneš ein Schock. Man sprach -ein bisschen emotional- von einem "Verrat der Westmächte" in München und sehnte sich nach einem starken, verlässlicheren Verbündeten - nach dem Überfall der UdSSR hat sich ein solcher fast von selbst angeboten.

Russland war für die Bewohner des böhmischen Raumes geographisch und geopolitisch immer weit entfernt. Die slawischen Sympathien der Tschechen waren immer nur platonischer Natur. Die Tschechen hatten keinerlei praktische Erfahrung mit der russischen Monarchie. Berichte derer, die in Russland waren (der nachträglich gefeierte Gründer des tschechischen Journalismus Karel Havlíček, später Masaryks Buch „Russland und Europa“, und seine Artikel über den Bolschewismus) waren nüchtern formuliert und enthielten offen warnende Töne. Diejenigen, die über Russland schrieben, taten dies nicht selten überraschend inkonsequent: Havlíček z.B. änderte später aus rein politischem Kalkül seinen Standpunkt völlig.

Auf der anderen Seite stehen gänzlich hysterische, völlig unrealistische slawische Phantasien des Dichters Ján Kollár oder von Politikern wie Karel Kramář , hier insbesondere dessen Neoslawismus.

So hängt die gewisse tschechische Schwäche kurioserweise mit der sozialen Demagogie zusammen. Bei der sozialen Zusammensetzung der tschechischen Volksgruppe in der Mitte des 18. Jahrhundert, aus der später die tschechische politische Nation entstanden ist, handelte es sich zunächst um Bauern und Menschen aus ärmeren städtischen Bevölkerungsschichten, später um die aus diesen Gruppierungen hervorgegangene "Volksintellektualität" (nationale Intellektualität). Die neugeborene tschechische Gesellschaft verfügte über keinen Adel und hatte auch daher einen weitgehend plebejischen Charakter. Aus diesem Grund hatte der tschechische „Demokratismus“ auch Schattenseiten.

Russland. der selbsterkorene Protektor: die allgemein herrschenden Vorstellungen von einer wesentlichen qualitativen Änderung Russlands um 1917 (ob nun im guten oder schlechten Sinne) sind übertrieben. Das autokratische russische Regime befand sich seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in einer Krise, die schließlich im ersten Weltkrieg gipfelte. Im allgemeinen Chaos des militärischen Zusammenbruchs gelang es einer verhältnismäßig kleinen Gruppe von Terroristen die Macht zu ergreifen. Eine vom Westen übernommene und nach heimischen Mustern adaptierte soziale Utopie wurde zu ihrer Staatsideologie. Bei jeder Verwirklichung eines äußerst radikalen Konzepts entsteht letztendlich immer etwas ganz Altes: in diesem Fall war dies eine modernisierte "Samodjerschawie" (Gewaltherrschaft) in der ein modifizierter Marxismus zur Staatsreligion wurde. Im Rahmen dieser Ideologie gab es weder Platz für autonome Strukturen, noch für eine Teilung der Macht oder für Privilegien und Freiheiten. Der russischen Gesellschaft fehlten hierfür die Erfahrungen des europäischen Mittelalters. Ferner litten die Russen unter einer ständigen Angst vor Bedrohung - auch, oder vielleicht in erster Linie durch den europäischen Westen (d. h. durch alle Nationen westlich von Russland). Unter Zugrundelegung der historischen russischen Erfahrungen muss man zugeben, dass diese Angst leider nie ganz unbegründet war. Eine nicht unwichtige Rolle spielt dabei auch der von den Russen nie völlig verarbeitete Komplex des Zurückgebliebenseins.

Diese Tatsachen stellten ungünstigerweise eine sehr schlechte Ausgangsposition für die Rolle eines wohlgesinnten Schirmherrn dar. Russland ist (bis heute) nie ein "Reich des Bösen" gewesen, sondern war immer nur ein mächtiges, aber primitives Land, indem die politische Kultur schon immer auf niedrigster Stufe stand. Seine politischen Eliten zeigten nur immer eine große Vorliebe für primitive und gewaltsame Verwaltungsmittel.

2. Die Idee des Präsidenten Beneš: Humanitäre Demokratie und Demokratischer Sozialismus

Beneš war Schüler von T. G. Masaryk, im Unterschied zu seinem Lehrer aber ein politischer Praktiker, kein theoretischer Denker. Er versuchte dabei jedoch sehr ehrgeizig, sich auch auf geistiger Ebene durchzusetzen. Besonders nach dem Tod Masaryks war er bestrebt zu beweisen, dass er seinem Vorbild nachkommen konnte. Nach dem Zusammenbruch der ersten Tschechoslowakischen Republik sah er sich zusätzlich dem unbewältigten Trauma aus der Zeit der „Münchener“ Politkrise ausgesetzt.

Beneš knüpfte an Masaryk´s Auffassung der europäischen Geschichte der Neuzeit an: Nach Masaryk ist diese durch einen Konflikt zwischen Demokratie (sehr breit, als Lebensauffassung interpretiert) und Theokratie getragen. Er verfolgte die Entwicklung der Demokratie ab der Zeit der Reformation bis hin zu den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts und der Erweiterung des Demokratiebegriffes durch die sozialen nationalen Bewegungen im 19. Jahrhundert. Dieser Streit gipfelte Masaryks Meinung nach im ersten Weltkrieg – in einer „Weltrevolution“, die den Sieg der Demokratie über die Theokratie bedeutete. Teil dieses Sieges war die Gründung der unabhängigen demokratischen ČSR. Es handelt sich hier um eine typische Staatsideologie: Die ganze Geschichte ab dem 15. Jahrhundert wird ausgehend von der Bildung in der ČSR beurteilt. Dies aber ist eine optische Täuschung: Alle Geschehnisse scheinen hier von nur einem Bezugspunkt abzuhängen. Beneš (Demokratie heute und Morgen, ursp. 1939, dann durchlaufend umgearbeitet bis 1945) setzt diese Auffassung mechanisch fort:

1918 sei lediglich ein Sieg der "bürgerlichen Demokratie" gewesen. Hierauf sei eine Krise gefolgt, in der sich u. a. autoritäre Regime hätten durchsetzen können. Die Unvollkommenheit der bürgerlichen Demokratie hätte die Forderung nach einer sozialen und wirtschaftlichen Erweiterung der Demokratie aufkommen lassen. Das übertriebene Gewicht der politischen Parteien in der Gesellschaft, der Missbrauch der Pressefreiheit (vergleiche den hetzerischen Charakter der Presse), die zögernde Umsetzung und die mangelnde Effektivität der demokratischen Methoden in dieser kritischen Lage, sowie die ungenügende Durchsetzung des demokratischen Führerprinzips seien Symptome dieser Krise. (Seltsam erscheint, dass alle diese kritischen Bemerkungen übliche Einwände von Anhängern autoritärer Regime waren).

Beneš´s Auffassung vom russischen Kommunismus änderte sich jedoch allmählich: Zu Anfang sah er die UdSSR noch als totalitären Staat (1939). Später stellte er aber zunehmend fest, dass gewisse Züge des russischen Systems mit den Prinzipien der Demokratie übereinstimmten: So vor allem die Idee sozialer Gerechtigkeit und zeitlicher Begrenzung der proletarischen Diktatur als Mittel zur Durchsetzung einer höheren Qualität von Freiheit.

Der Kommunismus war nach Beneš ein Aufruf an die „bürgerliche“ Demokratie. Diese solle sich (auch für den Preis einer gewissen Beschränkung der Freiheit des Individuums in diesen Bereichen) auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet erweitern. Das "tschechoslowakische" Volk sei auf Grund seiner demokratischen Tradition und seines slawischen Charakters zur Durchführung dieser Erweiterung bestimmt. Nur so werde eine "humanitäre Demokratie" entstehen. Im Rahmen der zukünftigen Entwicklung des (Nachkriegs-)Europa solle es zur Konvergenz von Demokratie und "Sozialismus" (d.h. russischem Kommunismus) kommen.

Dieser Ideologie hat Beneš in seinem Buch „Betrachtungen des Slawentums“ (hrsg. in London zu Ende des Weltkrieges) slawisch inspirierte Motive zugefügt: Alle slawischen Völker seien, was ihren Charakter betrifft, sehr demokratisch gesinnt und hätten stärkere egalitäre Neigungen als andere europäische Völker (das soll angeblich positiv sein). Der Sieg der Verbündeten im Weltkrieg eröffne den Weg zur politischen Verwirklichung eines demokratischen, auf der Idee der Humanität aufbauenden Slawentums.

Der politische slawische Gedanke gründet in einer starken ethnischen und kulturellen Verwandtschaft und gemeinsamen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Interessen (zu denen in erster Linie der Kampf gegen die Gefahr aus Deutschland gehörte).

Dies war eine kurze Übersicht der Ideologie des E. Beneš, wie sie sich während des 2. Weltkrieges herauskristallisierte.

Ausgehend von dieser Ideologie wurden unmittelbar nach der Befreiung der ČSR wesentliche wichtige politische und wirtschaftliche Reformen, z.B. im Vergleich zur ersten Republik, durchgesetzt:

- das System der "Nationalen Front", in dem die zugelassenen Parteien verbindlich organisiert wurden (die „Nationale Front“ stellte zugleich auch eine Regierungskoalition dar). Die Zusammenarbeit mit den Kommunisten war verbindlich, Parteien der rechten Mitte (unter ihnen auch die Agrarpartei, die stärkste tschechische Vorkriegspartei) wurden verboten.

- "Nationalisierung" (d.h. praktisch Verstaatlichung) von ungefähr 3/4 des tschechoslowakischen industriellen Potentials.

- indirekte Reglementierung der Presse (Genehmigung und Zuteilung der Printmedien lagen im Ermessen des von den Kommunisten beherrschten „Ministeriums für Informationen“).

- Entrechtung von großen Bevölkerungsgruppen, vor allem von Deutschen (3,2 Mill.) und Ungarn (900 000). Die gesamte Gesellschaft lebte in einer durch Gewalt gekennzeichneten Atmosphäre, in der Massenverbrechen an der Tagesordnung waren. Die Vertreibung der Deutschen bedeutete zugleich eine generelle Relativisierung der Bürgerfreiheiten und den allgemeinen Verfall der politischen Kultur.

- enge Bindungen an die UdSSR als damals einzige bedingungslose Unterstützerin der tschechischen Politik gegenüber der "nichtslawischen" Minderheiten

In diesem Umfeld konnten die Kommunisten ihren Einfluss in wichtigen Bereichen des staatlichen Lebens (Polizei, Armee, Staatsverwaltung, Außenpolitik), auch mit Unterstützung aus Moskau, weitgehend stärken.

3. Verbreitung dieser Ideologie in der zeitgenössischen nicht-kommunistischen Presse

Ein Beispiel ist die renommierte politische Zeitschrift des prominenten Journalisten Ferdinand Peroutka, der immer „der Burg“, d.h. dem Präsidenten, seiner Umgebung und der Volkssozialistischen Partei, nahe stand.

Wichtige dort zu findende Thesen sind:

- Nur der Sozialismus könne die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der modernen Zeit (Organisation von Produktion und Massenkonsum, sowie Entwicklung der Technik) befriedigend lösen. Die alte („bürgerliche“) Demokratie habe zwar gewisse positive Züge gehabt, ihr fehle es jedoch an jeder systematischen Planung. Die sittliche Dimension des Sozialismus bedeute wirtschaftliche Gleichheit und gleiche Chancen für alle. Der Begriff des Sozialismus wird auf folgende Weise interpretiert: es existierten zwei Varianten: kollektiver (russischer Kommunismus, Bolschewismus), und individueller (demokratischer) Sozialismus. Die Ziele der beiden Varianten seien die gleichen (eine klassenlose Gesellschaft), es unterscheide sich nur die Auffassung vom Weg zu diesem Ziel.

Innerhalb der Synthese dieser beiden Formen des Sozialismus komme dem "tschechoslowakischen" (d.h. tschechischen) Volk eine bedeutende Rolle zu – auf Grund seines Leidens und seiner Heldentaten während des Weltkrieges sei es dazu berufen, diese Versöhnung von östlichem und westlichem politischen System (Weltanschauung) zu verwirklichen. "Alle Augen sind auf uns gerichtet... Unsere Aufgabe ist es zu beweisen, dass die Teilung der Welt in zwei unversöhnliche Lager keine zwangsläufige Notwendigkeit ist, sondern dass es sich hierbei um ein bloßes Missverständnis handelt."

Diese historische Aufgabe des „tschechoslowakischen“ Volkes werde dadurch erleichtert, dass sich die Kommunisten und die Sowjetunion während des Krieges wesentlich geändert hätten - sie hätten ihrer generell negativen auf die Weltrevolution ausgerichteten Politik zugunsten eines schöpferischen Patriotismus und einer Zusammenarbeit mit demokratischen politischen Kräften den Rücken gekehrt. Dabei vertaten die Autoren der Zeitschrift die These, dass wir von den Russen nur das wirklich sozialistische, dass uns bereichern könne übernehmen sollten (Beispiele: die Lösung des Nationalitätenproblems, das sowjetische Strafrecht); es gebe jedoch sowjetische "Spezifika", die uns nicht zur Nachahmung verpflichteten (seltsame gesellschaftliche Verwaltungsmethoden, Zensur der Kunst). Das, was wir für Unfreiheit hielten, sei jedoch für "sowjetische Menschen" etwas ganz Normales und Natürliches. Wir müssten es begreifen und tolerieren, aber nicht mechanisch nachahmen. Teils erkennt man hier eine gewisse Verbitterung über die mangelnde Würdigung der positiven Einstellung der tschechischen "individualistischen Sozialisten" und die Bevorzugung der knechtischen Huldigung der hiesigen Kommunisten durch die Russen. Der Schluss ist immer der gleiche: wir seien mit der Sowjetunion auf Gedeih und Verderb verbunden, weil hinter unserer westlichen Grenze unser größter Feind, d.h. Deutschland, stehe. Hinter diesem Feindbild verbirgt sich vor allem eine latente Angst vor der Vergeltung für die Taten der Tschechen gegenüber den böhmischen Deutschen.

Jede Gesellschaftskritik (die es gelegentlich, immer gefolgt von Wutanfällen der Kommunisten, auch in dieser Zeitschrift gab) müsse im positiven Rahmen des Sozialismus gemacht werden. Man findet hier didaktische Erklärungen über den Nutzen dieser Kritik, die den Erläuterungen der kommunistischen Reformisten der 60er Jahre ähneln – freilich mit dem Unterschied, dass der geschichtliche Prozess hier in umgekehrter Richtung verläuft, d. h. in den Abgrund der Unfreiheit mündet. Die Rolle der Kritik solle sein, Mängel aufzuzeigen um so den Sozialismus zu stärken.

In Dnešek gab es auch Kritik an einzelnen Verbrechen gegen Deutsche - der "Transfer" als solcher wurde jedoch vorläufig äußerst positiv bewertet (direkte Kritik war praktisch auch nicht möglich; man konnte nur schweigen): der Ökonom Jiří Hejda (der später in einem spektakulären politischen Prozess zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde) betont ganz offen die "pragmatischen Aspekte": der Ausgang des Krieges sei eine einzigartige Gelegenheit für die endgültige Lösung der Deutschenfrage in der ČSR. Es handele sich um eine in der Geschichte beispiellose Aufgabe, um eine positive Bestimmung. Ein anderer Autor spricht über den größten Gewinn unserer ganzen Geschichte. Die Garantie hierfür sei die Macht der UdSSR. Wiederholt findet sich der Gedanke der schicksalhaften Verbindung mit der UdSSR auf Gedeih und Verderb. Außer praktischen Erklärungen stehen in diesem Zusammenhang auch moralische: wir müssten sittliche Argumente betonen, ohne dies sei unser Tun nicht von dem der Nazis zu unterscheiden. Sittliche Argumentation bedeutete die Interpretation des Ganzen als Strafe für die durch den zweiten Weltkrieg entstandene moralische Schuld des deutschen Volkes. Der deutsche Nationalismus sei nur eine der vielen Gesichter des ewigen deutschen Geistes, mit dem die Tschechen von Anfang an ihrer Geschichte zu kämpfen gehabt hätten. Es handele sich nicht nur um den Kampf um die Nationalität und den von den Vorfahren geerbten Boden, sondern auch um einen Kampf für die Menschlichkeit und für allmenschliche Werte. Die Tschechen gälten als Vorkämpfer der Menschlichkeit.

In dieser Zeitschrift werden zum einen die Überzeugung von der Unverbesserlichkeit der Deutschen , die insgeheim schon den nächsten Krieg vorbereiteten, zum anderen die nervösen Reaktionen auf jedes Signal der versöhnlichen Politik der westlichen Großmächte gegenüber Deutschland, sehr deutlich. Man verlangt eine permanente Überwachung Deutschlands. Hier zeigen sich die Früchte eines unanerkannten Schuldbewußtseins.

Die internationale Lage entwickelte sich anders, als es diese Prediger der Konvergenz vorausgesagt hatten. Dies führte zu Beunruhigung und Frustration auf Seiten der Publizisten: Die Welt sei in West und Ost geteilt, wir gehörten zu Russland. Die Synthese von Sozialismus und Demokratie sei auf Weltebene zurzeit nicht realisierbar, wir müssten jedoch versuchen, sie in unserer Innenpolitik zu verwirklichen. Einen besonderen Schock bedeutete das sowjetische Diktat bezüglich des tschechoslowakischen Zutritts zum Marshall-Plan. Das Bild des tschechischen Davids, der die übermenschliche Aufgabe der Synthese zwischen dem Bolschewismus und der Demokratie erfüllt, entwickelte sich allmählich zu einer weit weniger ambitiösen Gestalt eines Zwergchens im unbarmherzigen Getriebe der Welt: "Wir sind in der Lage eines kleinen Volkes, dem seit Jahrhunderten die Gefahr der Vernichtung durch den deutschen Nachbarn droht. Wir kleinen Völker sind nur ein winziger Bestandteil eines riesigen Räderwerkes, in dem wir uns drehen und das sich mit uns dreht."

Eine der Folgen dieser Denkweise war, dass die Nicht-kommunisten dem kommunistischen Putsch im Februar 1948 völlig wehrlos und unvorbereitet gegenüber standen.

2. Ein Beispiel eines nicht-komunistischen tschechischen Politikers - Jan Masaryk

Sein rätselhafter Tod erweckt Mitleid, das es mir schwer fallen lässt, nichts Besseres als Folgendes über ihn sagen zu können:

Er war ein unglücklicher Mensch, dem die nicht beneidenswerte Rolle vom Sohn eines großen Vaters zukam. Der alte Masaryk hatte viele Vorzüge, bewusste Toleranz gegenüber der Jugend gehörte sicher nicht dazu. Jan Masaryk war laut seiner Freunde im Grunde ein melancholischer Mensch. Diese Melancholie wurde jedoch durch sein joviales äußeres Wesen überdeckt. Er bemühte sich in seiner Jugendzeit nie sehr energisch um Unabhängigkeit. Im Gymnasium erlangte er nur schlechte Resultate, die es ihm nicht ermöglichten, ein Hochschulstudium abzuschließen (alles noch in der Zeit der alten Monarchie, geb. 1886). Während seines langjährigen Aufenthalts in den USA musste er sich völlig allein durchschlagen. Von seinem Vater, der mit diesem Versuch der Verselbstständigung nicht einverstanden war, bekam er kaum Geld. Er sprach einwandfrei englisch und gut deutsch. Zur Zeit des 1. Weltkriegs diente er als Reserveoffizier. Das Kämpfen an der Front wurde ihm versagt, da sein Vater als Hochverräter galt. Nach dem Krieg arbeitete er im diplomatischen Dienst der CSR, von 1925 bis 1938 war er Botschafter in Großbritannien. Er genoss den Ruf eines beliebten Gesellschafters und spielte sehr gut Klavier. Bei einem Konzert während des Exils begleitete er eine bekannte tschechische Sopranistin. Zugleich hielt man ihn für einen "untypischen", völkischen Politiker, was ihn in der tschechischen Öffentlichkeit sehr populär machte. Er galt als geschickter Diplomat, der zugespitzten Konfliktsituationen jedoch nicht gewachsen war. Während des Exils (er war Außenminister in Beneš Exilregierung) träumte er davon, ein kleines Gasthaus zu besitzen. Für die lange Zeit seiner USA- Aufenthalte, die sich nur unter Vorbehalt als Geschäftsreisen bezeichnen lassen, ließ er sich in seinem Amt vertreten. Von Zeit zu Zeit blieb er den Sitzungen der Regierung auch schlicht und einfach fern (siehe u. a. Errinerungen von Exilminister L. Feierabend).

1945 fand sich der korpulente, gutmütige und nie eroberungssüchtige Politiker nun auf einmal in der Welt von Iwan dem Schrecklichen wieder. Er willigte in alle Forderungen der Russen ein (die wichtigste war dabei die Ablehnung der Teilnahme am Marshall-Plan), nahm jedoch stets auf seltsame Weise Abstand von seiner Politik und kommentierte sie in gewisser Weise zynisch.

Beispiel: Im Rahmen der Konferenz der UNO 1945 sagte er offiziell: „Unsere Zusammenarbeit mit der sowjetischen Delegation war durchgängig intim und freundschaftlich... Es war für mich eine Ehre, mit dem sowjetischen Komissar für Außenanglelegenheiten Molotov zusammenzuarbeiten zu dürfen."

Privat vertraute er jedoch seinem engen Mitarbeiter Viktor Fischl an: „Molotow schickt mir von Zeit zur Zeit Zettel mit Befehlen, denen ich zumeist zu gehorchen habe. Ich bewahre sie auf, da man nie weiß, was passiert. Ich fühle mich wie der Hund auf der Gramophonplatte der Firma His Master´s voice. Nur dass ich wenn Herr Molotov spricht wünschte dass mein Herr mit einer ein bisschen menschlicheren Stimme disponieren würde.“

In ebenso privatem Rahmen bemerkte er nach der Rückkehr aus Moskau, wo ihm Stalin die Teilnahme der ČSR am Marshall-Plan verbot: „Ich dachte ich sei als tschechoslowakischer Außenminister nach Moskau gekommen und als Stalins Knecht zurückgekehrt. Dies war jedoch ein schicksalhafter Irrtum: Es ist schon Stalin´s Knecht nach Moskau gekommen, nur wusste dieser selbst nichts darüber.“

Sein Beliebtheitsgrad in den Salons von London und New York sank durch diese Politik radikal. Für einen bedeutenden amerikanischen Publizist war Masaryk schon 1947 nur "ein dicker Herr, der Witze macht". Während der Abstimmungen der Regierung über Konfliktangelegenheiten verschwand er immer öfter auf die Toilette: er hasste Krisensituationen. Auch seine Kollegen aus dem bürgerlichen Lager glaubten nicht mehr an ihn und informierten ihn in Februar 1948 nicht einmal im Voraus über ihre Rücktrittsabsichten.

Als „unparteilicher“ Minister verweigerte er jedoch seine Resignation und blieb Mitglied der neuen, kommunistischen Gottwald-Regierung. Er konstatierte sogar öffentlich: „In dieser Regierung werde ich gerne teilnehmen.“ Er musste schriftliche Kündigungen für seine engsten Mitarbeiter unterschreiben. In der westlichen Presse konnte er damals lesen: "Nur wenige nicht-kommunistische Politiker haben Mut gezeigt. Jan Masaryk, beliebt in allen Salons von New-York, gehörte nicht dazu. Er spielte sogar die vielleicht schmutzigste Rolle." Dies ist jedoch übertrieben - er war nur schwach, der Situation nicht gewachsen. Es stellt sich jedoch die Frage, welcher Situation er eigentlich gewachsen war.

Am frühen Morgen des 10. März 1948 fand man ihn tot auf dem Pflaster im Hofe des Czernin-Palast (Sitz des Außenministeriums) (Er sprang oder stürzte aus dem vierten Stock, in dem sich seine Wohnung befand.). Es ist bis heute unklar, ob es sich um Selbstmord oder Mord handelte. Es kam jedoch schnell der Verdacht auf, dass die NKVD dabei eine wichtige Rolle spielte. Meiner Meinung nach ist dies heute nicht mehr von Bedeutung.

Die eigentliche Schuld des Jan Masaryks (und auch des E. Benešs) bestand darin, dass sie (nicht absichtlich, nur faktisch) durch ihr Verbleiben in wichtigen politischen Funktionen Gottwald halfen, die Illusion eines harmonischen Übergangs von der Demokratie zum "Sozialismus" und von der Verfassungstreue seiner Methoden aufrechtzuerhalten. Ihre Pflicht wäre es gewesen abzutreten. Diese Pflicht haben sie nicht erfüllt.

4. Kommunistische Ideologie

Die Ideologie eines demokratischen, individualistischen, humanen Sozialismus (die 1968 wieder auflebte!) scheint im Vergleich mit der schlichten, einfachen kommunistischen Ideologie etwas Überflüssiges Kompliziertes, Kompromissreiches, Inkonsequentes und im Grunde Unaufrichtiges zu sein. Die Kommunisten bekannten sich zu einem "spezifischen tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus" unter Beibehaltung der parlamentarischen Demokratie (im Sommer 1947 änderten sich zwar die Instruktionen aus Moskau, die kommunistische Rhetorik blieb aber bis zum Februar 1948 dieselbe). Das, was die Kommunistische Ideologie so seltsam erscheinen lässt ist ihre Anpassung an die Welle des tschechischen Nachkriegschauvinismus. Während des Krieges vertraten die Kommunisten einen aggressiven Internationalismus. Jetzt aber wurden sie urplötzlich vaterländisch, so dass sie z. B. alle Kontakte zu den ungarischen Kommunisten stillschweigend abbrachen. (Die Ungarn galten als der zweite "ewige Feind" der „tschechoslowakischen“ Nation). Der ungarische kommunistische Führer Rákosi beschwerte sich bei Molotov darüber bitterlich: "Ich habe den Eindruck, dass die tschechoslowakischen Genossen wahnsinnig geworden sind." Diese distanzierte Haltung der Tschechen hatte jedoch einen rein "pragmatischen" Sinn.

Ein Beispiel des "Roten Chauvinismus" ist die Broschüre des Universitätsprofessors Zdeněk Nejedlý "Kommunisten - Erben der großen Traditionen des tschechischen Volkes" (es handelte sich dabei ursprünglich um einen Vortrag aus dem Jahre 1946). Der Autor war ein berühmter tschechischer Historiker und ehemaliger Schüler des Konservativen Josef Pekař, der später Anfang der 20er Jahre zum Marxismus konvertierte. Nach dem Februarputsch wurde er Minister für Schulwesen und schaffte erfolgreich das tschechische Schulsystem ab. Dies war ein primitiver Versuch zu beweisen, dass alle wichtigen geistigen und politischen Bewegungen der tschechischen Geschichte im Kommunismus mündeteten und dass alle wichtigen Persönlichkeiten des tschechischen geistigen Lebens faktische Vorläufer der Kommunisten waren. "Wir Kommunisten sind keine bloß vorübergehende Erscheinung. Wir sind verwurzelt - und zwar tief verwurzelt - mit der Gesamtentwicklung unseres Volkes... wir sind die letzte Phase dieser Entwicklung." Über den tschechischen Religionsreformator Jan Hus schreibt Nejedlý z.B. Folgendes: "Heute würde Hus Führer einer politischen Partei sein und seine Tribüne würde keine Kanzel sein, sondern der Wenzelsplatz oder der Saal »Lucerna«. Seine Partei würde uns, den Kommunisten, ganz nahe stehen." Nejedlý musste sich dabei irgendwie damit abfinden, dass Hus gläubiger Christ war. Er schrieb: "Es hat mich immer überrascht, wie wenig Hus Theologe war, wie wenig er über Existenz, Eigenschaften usw. seines Gottes nachdachte. Das Volk und sein Leiden dagegen rührten ihn zutiefst... Die religiöse Form seiner Erläuterungen war nur eine Waffe im Kampf gegen die mächtige Kirche." Die Primitivität dieser Äußerungen ist unglaublich. Zur "Nation" rechnet Nejedlý jedoch nicht alle, die tschechisch sprechen sondern nur das „Volk“ im Gegensatz zur „Herrschaft“ (der Adel, die Burgeoisie). Er betont dabei den slawischen Charakter des "Volkes".

Das Ergebnis dieser Erläuterungen ist ein kitschiges Panoptikum aller allgemein anerkannten tschechischen Kulturpersönlichkeiten aus älterer Zeit - ein tschechischer Olymp, diesmal rot gefärbt. Die echte Nation sei das Volk, das echte Volk seien die Proletarier, die echten Proletarier seien die Kommunisten. Die „Intelligenz“ dagegen sei im Ganzen bedenklich: sie grübele zuviel, zerlege Begriffe und Fakten. Dagegen lobt Nejedlý die schlichte Denkweise des Volkes. Nach ihm existiert sogar eine tschechische nationale Moral: „gut ist, was dem Volk hilft. Böse ist, was gegen das Volk gerichtet ist." Dominierendes Gefühl im neuen roten Patriotismus ist der Hass: "Auch der Hass ist eine Form der Gerechtigkeit... Ein heiliger Hass, ein Hass gegen das Böse und gegen die, die das Böse säen und verursachen..." Die Basis des tschechischen Nationalgedankens sei ein tiefer Demokratismus (die Tschechen seien in dieser Hinsicht vollkommener nicht nur als Deutsche, sondern auch als Polen).

Die Ursprünge dieser Ideologie liegen im tschechischen Plebeiertum: Ein Hass gegen die katholische Kirche (auch gegen das Christentum im Allgemeinen) und gegen gebildetere, kultiviertere Schichten der Bevölkerung (Bürgertum, Adel, Intellektualität).

Am Anfang war auch T. G. Masaryk (und die ganze tschechische liberale politische Tradition) Teil dieser nationalen Schatzkammer. Grund dafür war die ungeheure Autorität Masaryks in der Bevölkerung. Nach der Machtübernahme haben die Kommunisten den Masaryk-Kult allmählich abgebaut. Später wurde praktisch jegliche Form der positiven Beurteilung Masaryks verboten. (Im Grunde bedeutet es nur Lob für Masaryk, dass er nicht in das kommunistisches Panoptikum passte).

Ein Zeugnis dieser Ideologie ist die Präambel der kommunistischen "Verfassung des 9. Mai" (Sie wurde im Mai 1948 dem schon gleichgeschalteten Parlament zur Abstimmung vorgelegt und zum unmittelbaren Abtrittsgrund des Präsidenten Beneš, der am Ende nicht bereit war, eine solche „Verfassung“ zu unterschreiben). Die Präambel schildert die historische Entwicklung des tschechischen Volkes. Besonders interessant ist die unterschiedliche Akzentuierung:

Die Tschechen und die Slowaken seien Mitglieder der großen slawischen Familie, sie hätten das Christentum vom Osten gemeinsam übernommen (die Richtung ist wichtig, nicht das Christentum).

Die hussitische Revolution habe die Gedanken der Meinunsfreiheit, Volksherschaft und Gerechtigkeit zu den Tschechen und Slowaken gebracht.

Im jahrhundertelangen Kampf beider Völker gegen die feudale und gegen die deutsche Ausbeutung hätten sich die Ideen von Freiheit, Fortschritt und Humanität realisiert. Zusammen hätten Tschechen und Slowaken im ersten Weltkrieg gegen den deutschen Imperialismus gekämpft. Unter dem Einfluss der großen Oktoberrevolution hätten sie einen gemeinsamen demokratischen Staat errichtet. Kurz darauf aber sei es einer kleinen Gruppe von Kapitalisten gelungen, die fortschrittliche Entwicklung in der ČSR umzustoßen und den Kapitalismus einzuführen. Damit hätten sie den Weg für den tückischen Überfall unseres friedliebenden Staates durch den Erbfeind (es wird nicht eindeutig gesagt "durch den deutschen Erbfeind") mit Hilfe von Nachfolgern der fremden Kolonisten (d.h. der böhmischen Deutschen) geebnet. Mit Hilfe des sowjetischen Verbündeten sei es gelungen, den Erbfeind zu schlagen und einen nationalen, von feindlichen Elementen befreiten Staat zu errichten, der gesellig in der Familie der slawischen Völker und in Freundschaft mit allen friedliebenden Völker der Welt lebe.

Sehr seltsam, ja sogar exotisch wirkt der nationalistische, slawische Charakter des Textes. Die Geschehnisse des Februars 1948 sind nicht einmal erwähnt, betont wird dagegen die Kontinuität: Im Februar 1948 sei eigentlich nichts Außergewöhnliches geschehen, man habe nur einen weiteren logischen Schritt in die bisherige Richtung getan.

Die Präambel steht im krassen Kontrast zu der späteren Verfassung der "Tschechoslowakischen sozialistischen Republik" aus dem Jahre 1960. Diese hat eine wesentlich kürzere Einleitung: Es wird der Sieg des "Sozialismus" in der ČSSR erklärt, man spricht über brüderliche Beziehungen mit der UdSSR und mit den Ländern des sozialistischen Weltsystems (das Slawentum wird mit keinem Wort erwähnt). Besonders betont wird auch der Sieg der Werktätigen in Februar 1948, historische Erläuterungen fehlen völlig. Der rote Chauvinismus wurde aufgegeben.

Damit endet mein ideologisches Porträt des tschechischen "Sozialismus".

Vorgetragen im Tschechischen Zentrum Berlin in März 1998