Die Beziehungen der CR zu ihren Nachbarn und Aussichten durch die Integration in die EU

Bei näherer Betrachtung westeuropäischer Veröffentlichungen habe ich manchmal den Eindruck, daß man die Politik dort für den bloßen Überbau des wirtschaftlichen Lebens hält. Die hochentwickelten westeuropäischen Staaten haben nach dem zweiten Weltkrieg Zeit genug gehabt, die schicksalhaften nationalen Spannungen, die zum Ausbruch beider Weltkriege führten, nach und nach abzubauen. Auch die Angst vor einer Kollektivbedrohung von Seiten des kommunistischen Rußlands führte zunehmend zum Abbau der nationalen Konflikte. Im Rahmen der EU existieren nur noch absterbende Rudimente solcher Spannungen (Nordirland, Baskenland), und auch dort (zumindest im erstgenannten Fall) ist ein gewisser Fortschritt erkennbar. Es droht jedenfalls nicht die Gefahr, daß diese Spannungen zu schweren zwischenstaatlichen Konflikten führen könnten. Deshalb kann man problemlos und leichten Herzens von einem Europa der Regionen sprechen und frei und ohne Furcht über eine Übertragung beträchtlicher Teile der staatlichen Souverenität an gemeinsame Organe der EU entscheiden. Die Mitglieder des neuen Europa genießen heute eine tatsächlich gesicherte Stellung.

Im mitteleuropäischen, bzw. mittelosteuropäischen Gebiet, das Rußland am Ende der achtziger Jahre geräumt hat, sieht die Lage ganz anders aus. Auf einer Seite herrscht hier ein nahezu neurotisches Drängen auf Integration ins westliche Europa, das hier die fast mystische Rolle eines verlorenen Paradieses spielt. Auf der anderen Seite trifft man jedoch auch auf tiefe Unsicherheiten bezüglich eigener Fähigkeiten und auf eine latente Unzufriedenheit mit sich selber, mit der eigenen Vergangenheit und Gegenwart, und nicht zuletzt mit den Nachbarn und deren Absichten. Der entscheidende Schritt, den Westeuropa in den letzten fünfzig Jahren getan hat, ist bisher ausgeblieben. Dies ist nicht nur Folge einer allgemeinen Rückständigkeit, sondern auch das Resultat eines historischen und kulturellen Hintergrundes der sich in vielerlei Hinsicht vom westlichen unterscheidet. Deshalb trägt diese Region in sich immer Keime gefährlicher Konflikte, die ohne Heilungsversuche in der Zukunft die Stabilität des vereinten Europas bedrohen könnten. Dieses Gebiet ist daher in gewissem Sinne mit dem Westen Europas (wozu auch Deutschland gehört) auch bisher nicht völlig kompatibel. Dies bezieht sich nicht (beziehungsweise nicht nur) auf wirtschaftliche Probleme, sondern vor allem auf die Auffassung von den Aufgaben der Nation (des Volkes) und des Staates, und auf den Stand der inneren Sicherheit der Gesellschaft. Man spricht immer vom Balkan als einem Beispiel gefährlichen, explosiven Territoriums. Auch in Mittelosteuropa existiert jedoch ein “balkanisches Syndrom”, Mitteleuropa ist in mancher Hinsicht ein “Balkan mit menschlichem Gesicht”. Auch hier gibt es latente Konflikte, die ohne entsprechende Lösungen durch die hiesigen Gesellschaften einmal zu ernsten Komplikationen für ganz Europa werden könnten. Sie bekamen eine definitive Gestalt im Versailler System, sind Ende der dreißiger, bzw. Mitte der vierziger Jahre eingefroren und seit dem Sturz des russischen kommunistischen Imperiums allmählich wieder aufgetaucht. Diese Konflikte schaffen einen günstigen Nährboden für eine unverantwortliche populistische Politik, wie sie z.B. der Mečiar in der Slowakei oder Iliescu in Rumänien praktiziert. Hierher gehören in mancher Hinsicht aber auch tschechische politische Persönlichkeiten wie Václav Klaus oder Miloš Zeman, die jedoch im Westen einen viel besseren Ruf genießen.

In Mitteleuropa finden sich zwei sich teilweise überdeckende Problemkreise: das Trianon-problem (die äußerst unangenehmen Folgen der Teilung des historischen Ungarischen Königtums) und das tschechoslowakische Problem. Mein Vortrag befasst sich mit der tschechischen Gesellschaft, der CR. Deshalb werde ich mich im Folgenden auf den zuletzt genannten Punkt konzentrieren. Bei der Bewertung der Lage in Mitteleuropa gehe ich von tiefgreifenden Analysen aus, die der ungarische Philosoph und Politologe István Bibó in den 40er Jahren in seinen Werken über das europäische Gleichgewicht und den europäischen Frieden (Az Európai Egyensúlyról és Békéről) sowie über das Elend osteuropäischer Kleinstaaten (A Kelet-európai Kisállamok Nyomorúsága) formuliert hat.

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Die Probleme der Tschechen mit ihren Nachbarn haben historische Wurzeln. Sie hängen mit der Art und Weise der Entstehung des modernen tschechischen politischen Volkes zusammen. Im zu der Zeit auf universalen, katholischen Werten bauenden Umfeld des Habsburgerreiches entstanden überall in der Nachbarschaft etnische Zusammengehörigkeiten als Ausgestaltungen politischer Gesellschaftssysteme. Es gibt - auch bei uns – Politologen, Philosophen und Historiker, die diese ethnische Entwicklung bedauern und im modernen Nationalismus nur eine Entgleisung sehen, die notwendigerweise zu Hitlers Nazionalsozialismus führen musste. Ich finde dies ungerecht: Es handelte sich hier vielmehr um einen natürlichen Prozess, der mit der Verteilung politischer Kompetenzen auf alle Bewohner des Staates, die so erstmals Bürger im modernsten Sinne des Wortes wurden, im Laufe des 18.-19. Jahrhunderts zusammenhing. Es ist nur logisch, daß die gemeinsame Sprache als Kommunikationsmittel in diesem Prozess eine wichtigere Rolle spielte als zuvor. Die Probleme entstanden nicht dadurch, daß etwas geschah, sondern dadurch, wie es geschah. Oft fehlte eine eindeutige Grenze zwischen den politisch ambitionierten Völkern. Außerdem bezogen sich die historischen Wurzeln, auf die sich diese Völker beriefen und die sie als Legitimation ihrer Existenzansprüche nutzen, auf ein Gebiet, das für gewöhnlich größer war, als das von der betreffenden Ethnie bewohnte Territorium.Diese Gesellschaften lebten so in einem von hysterischer Unsicherheit geprägten Zustand, der nicht selten das ganze öffentliche Leben deformierte und in der Umgebung nur Feindschaften entstehen ließ. Dies galt auch für die Tschechen und die tschechische Politik im 19. Jahrhundert. Politiker und Publizisten, die sich damals erfolgreich um die Durchsetzung von Grundsätzen einer liberalen, auf christliche Werte gestützten Politik in der tschechischen Gesellschaft bemühten, verwandelten sich in aggressive, durch Minderwertigkeitkomplexe gequälte Exzentriker, sobald sie über die Nachbarvölker zu sprechen begannen. So sieht es zumindest aus heutiger Sicht aus. Der Hauptfeind freilich waren hier die Deutschen: “wenn wir Tschechen doch eine Kultur haben, dann darf man nicht sagen, daß wir sie von den Deutschen bekommen haben, sondern daß wir sie trotz der Deutschen haben”, schreibt im Jahre 1850 der Gründer der modernen tschechischen Journalistik, Karel Havlíček. “Denn soweit das historische Gedächtnis reicht, waren die Deutschen immer gegen unsere Bildung, sie haben uns an allem gehindert. Was wir bisher erreicht haben, war für uns daher dreimal so schwer zu erreichen.” “Die Emazipation vom Deutschtum ist in jeder Hinsicht unsere Parole, und daher muß das Studium der romanischen Literatur die wichtigste Aufgabe unserer begabten und gebildeten Jugend sein”. Aber nicht nur der Deutsche, auch der Ungar war für die angespannte tschechische Gesellschaft ein Erbfeind. Dies hing mit der schwierigen Lage der Slowaken in Ungarn Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen. Die tschechischen Politiker und Publizisten hielten die Slowaken ferner für ein Teil des tschechischen Körpers – freilich ohne sie nach ihrem Einverständnis zu fragen. “Der Deutsche und der Ungar waren von jeher Feinde des Slawen, und das immer milde gestimmte slwaische Volk war diesen wütenden Feinden überall unterlegen, wurde von ihnen versklavt und mußte seinen Eroberern viele Jahrhunderte unter schweren Leiden bis zum Gedeihen dienen. Die Ungarn haben Pannonien erobert und allen dort wohnenden Slawen ein schweres Joch auferlegt, von dem diese sich erst jetzt allmählich befreien… Die Ungarn werden immer alte Wölfe bleiben. Der einzige Unterschied zur Vergangenheit besteht darin, daß sie jetzt, wo sie unfähig sind, uns gewaltsam gefügig zu machen, ein Schafsfell übergezogen haben…” (Havlíček spricht hier über Vorschläge deutscher und ungarischer liberaler Politiker von 1848). Betont werden muss dabei, daß der Autor der zitierten Zeilen ein ausgezeichneter Journalist war, der der tschechischen Gesellschaft die Grundlagen der demokratrischen und liberalen Politik erklärte und für die politische Feinarbeit plädierte, der gegen leeren revolutionären Radikalismus auftrat und am Anfang seiner öffentlichen Tätigkeit keine Angst hatte, die panslawistischen Illusionen der tschechischen Gesellschaft scharf zu kritisieren (“Der Name Slawe ist und bleibt nur ein geographischer und wissenschaftlicher Begriff und kein Name der Sympathie, mit der ein jedes Volk seinen Namen ausspricht. Wir sind und bleiben Tschechen…”).

Aber auch die Polen hatten damals bei den Tschechen und bei Havlíček keinen guten Ruf: „Dieser unglückliche, abtrünnige, herrische slawische Stamm wird nie wieder weder seine Freude, noch seine Sorgen mit uns teilen… Die Polen fühlen sich nicht als unsere Brüder… Sie paktieren mit den Ungarn, den Hauptfeinden der Slawen, und möchten sogar lieber mit den Frankfurtisten als mit uns zusammenarbeiten“ (1848).

Als der Prozess der politischen Emanzipation der slowakischen Nation begann, lehnten die Spitzen der tschechischen Politik diese Versuche allesamt empört ab: so etwa der schon zitierte Karel Havlíček: „Wenn Herr Štúr (die führende Persönlichkeit der slowakischen nationalen Emanzipation und Schöpfer der modernen slowakischen Sprache) sagt, daß er uns nicht schaden will ,sondern uns alles Gute wünscht, wenn er behauptet nur seine Angelegenheiten ordnen zu wollen usw., dann wissen wir wohl, daß dies zwar schöne Reden sind, dass dahinter aber schlechte Absichten und Taten stehen. Die Tätigkeit des Herrn Štúr schadet uns Tschechen, denn sie macht unser Volk um 3 Millionen Menschen schwächer.Sie schadet jedoch auch und sogar noch mehr den Slowaken, weil sie aus ihrem Neunmillionenvolk ein Dreimillionenvolk ohne Literatur, Amtssprache, Institution oder Geschichte, ein Volk ohne alles machen will. Gott weiß, welche Blindheit die neuen Slowaken überkommen hat, da auch die Tatsache, daß die Ungarn selbst diese Tätigkeiten billigen und sie unterstützen sie nicht zur Vernunft bringt.” Die Tschechen jedoch waren sich des heuchlerischen Unterschiedes zwischen dem unschuldigen, gutmutigen slowakischen Volk und seinen boshaften Verführern bewusst.

Das zweite Kapitel der Geschichte des Problems der Tschechen mit ihren Nachbarn handelt von der Tätigkeit des T. G. Masaryks, des Gründers der unabhängigen Tschechoslowakei. Masaryk war Vertreter der zweiten, selbstbewußten und gebildeten Generation der tschechischen Politiker. Seine Ansichten vom nationalen Problem und der tschechischen Nachbarn unterschieden sich schon auf den ersten Blick von denen des Karel Havlíček: „der Nationalismus bedroht uns mehr, als wir glauben. Wir betrachten unser nationales Leben viel zu negativ - wir halten den ewigen Antagonismus gegen die Deutschen für unser historisches Ziel und sind unfähig zu begreifen, daß wir eine eigene, positive Bestimmung haben. Wir sind nicht imstande, ohne Seitenblick aufs Ausland zu arbeiten...“ „Unser Verhältnis zu den Deutschen war von Anfang unseres Verfassungslebens an der brennendste Punkt. Im Kampf um die Freiheit standen wir nebeneinander (und sollten wir nebeneinander stehen), im Kampf um sprachliche und nationale Gleichberechtigung standen wir jedoch schon bald gegeneinander. Schon bald beklagte sich ein jeder von uns über den anderen und ersuchte Unterstützung bei derselben Staatsmacht, gegen die wir uns theoretisch, aber auch in der Praxis widersetzten“. (Masaryk spricht hier über die tschechisch-deutsche Beziehungen im Rahmen der Länder der Wenzelskrone 1848). „Einseitig war auch unsere antiungarische Politik. Die liberalen Stände liebäugelten zwar 1847 mit einer Verbindung mit dem ungarischen Adel... Die Volkspolitiker wiederum haben gegenüber den Ungarn jedoch eine gänzlich regierungstreue Stellung eingenommen. ... Man schrieb über die Ungarn mit derselben unbesonnenen und arroganten Verachtung, mit der die Deutschen über uns geschrieben haben...“ Masaryks wichtigste politische Sorge zu Anfang seiner politischen Laufbahn war „die mangelhafte Kommunikation mit den Deutschen, die zusammen mit uns unser Land von jeher an bewohnen“. Sein Schlagwort hieß damals: „In der österreichischen Föderation eine böhmische Föderation“, d.h. eine Föderation „eines Teils des deutschen Volkes mit einem slawischen Volk“. Dies alles sollte im Rahmen der Aufgaben, dessen Erfüllung Masaryks Ansicht nach dem tschechischen Volk oblag, ablaufen: Dies waren „die Aufgabe der Verbreitung von Humanität und der praktischen Lösung der Probleme mit den westlichen Völkern“.

Ende des 19. Jahrhundert war Masaryk also ein gemäßigter Nationalist, der sich um die Versöhnung der Tschechen mit ihrer Umgebung sorgte. Die politische Entwicklung in der alten Monarchie, die Unfähigkeit der führenden Politiker und nicht zuletzt auch die oft praktische Unlösbarkeit der tiefen nationalen Konflikte haben jedoch später dazu beigetragen, daß sich auch seine Ansichten allmählich radikalisierten. Diese Entwicklung beschleunigte sich, als er Anfang des Krieges emigrierte. Sie gipfelte im politischen Pamphlet „Das neue Europa“, das Ende des Weltkrieges erschien, für die führenden Politiker der Siegermächte bestimmt war und die tschechischen Ansprüche an den eigenen Staat unterstützen sollte. Masaryk spricht hier über den Pangermanismus als die Ideologie der Deutschen, die sich schon zu Zeiten Karls des Großen durchgesetzt habe und die auf der Feindseligkeit zu ihren Nachbarn, vor allem zu den Slawen, beruhe. Das moderne Deutschland setze den Aufbau des mittelalterlichen deutschen Imperiums fort. Dazu trage auch die deutsche Wissenschaft bei, “die freilich wirkungsvoll, aber als Teil des offiziellen Systems nicht frei ist. Die deutschen Universitäten sind eine geistige Kaserne... die ganze deutsche Kultur ist, wenn ich generalisieren darf, oberflächlich“. (Diese Generalisierungen ähneln ein wenig den Generalisierungen der Nazi-ideologen über die angebliche jüdische Kultur). Noch schlimmer ist es den Ungarn ergangen: Masaryk spricht von „mongolischen Magyaren“. Unterdrückerische Neigungen schreibt er schon dem heiligen Stefan zu, er behauptet: „Der ungarische Staat ist ohne tiefere Kultur. Das ungarische Volk steht in keiner Hinsicht höher als das der Slowaken, sondern wie die ungarische Sprache, die von der slowakischen eine Reihe wirtschaftlicher, administrativer und kultureller Begriffe übernommen hat, beweist, umgekehrt tiefer... Die Ungarn waren kulturell von den Slowaken abhängig“. Dieser scharfe Ton wird verständlicher, wenn man bedenkt, daß der Interessenkonflikt zwischen Tschechen und Ungarn zu der Zeit tiefer war, als der zwischen den Deutschen (d.h. den Reichsdeutschen) und den Tschechen. Dennoch spielten die Deutschen wiederum die Rolle des „gemeinsamen Urfeindes, der sich mit aller Kraft in die östliche Richtung drängt.“ „Das tschechische und das slowakische Volk sind die anti-deutsche Vorhut aller Völker Osteuropas.“ Daher verdienten sie einen eigenen Staat. Die Slowaken seien hierbei großzügig in die „tschechoslowakische“ Einheit einzuschließen. Ein wenig später sagte Masaryk zu diesem Thema: „Es gibt keine slowakische Nation. Sie ist eine Erfindung der ungarischen Propaganda. Die Tschechen und die Slowaken sind Brüder. Sie sprechen zwei Sprachen, die sich voneinander aber weniger unterscheiden als das Nord- vom Süddeutschen. Der einzige Unterschied ist die Stufe der kulturellen Entwicklung: die Tschechen sind weiter entwickelt als die Slowaken, weil die Ungarn den Slowaken jegliche Bildungsmaßnahmen versagt haben... schon nach einer Generation werden die Unterschiede zwischen diesen zwei Stämmen unserer nationalen Familie verschwunden sein.“ Daher hält Masaryk eine Autonomie der Slowaken für überflüssig. Wie lässt sich nun diese Auffassung damit verbinden, dass er den Slowaken diese Autonomie dennoch in Pittsburg versprochen hat? Die dortige Vereinbarung, so sagt Masaryk später, galt ausschließlich für Amerika und die amerikanischen Verhältnisse.

Ich möchte nochmals betonen, dass es sich auch bei Masaryk nicht um einen primitiven Chauvinisten, sondern um einen Menschen, der einst nach der Verständigung der Tschechen mit ihren Nachbarn strebte, und der im Kampf gegen die nationalistischen Vorurteile und gegen den Antisemitismus große persönliche Tapferkeit bewies, handelte. Nur in der Situation der Bedrängnis reagierte er irrational und hysterisch.

Das dritte und traurigste Kapitel dieser Geschichte spielt in der düsteren Zeit nach der Niederlage des Hitlerreiches. Die tschechoslowakische Regierung, die noch nicht im vollen Sinne kommunistisch war und sich formell zu Demokratie und Humanismus bekannte, plante eine großangelegte Aktion, die teilweise auch zur Durchführung gelangte. Deren Inhalt sollte die totale Entrechtung, Enteignung und endlich auch Vertreibung der Deutschen und der Ungarn aus der Tschechoslowakei sein. Die Vertreibung der Deutschen wurde ganz vollzogen, die Vertreibung der Ungaren stieß in ihrer letzten Phase auf ein energisches Nein der Westalliierten sowohl auf der Postdammer, als auch später definitiv auf der Pariser Konferenz. Die Art und Weise der Betrachtung dessen im tschechischen Teil der CSR spiegelt sich am deutlichsten in der damaligen politischen Propaganda, sowie der Presse wider. „Hitler hat den Nazionalismus nicht geschaffen“, schreibt der Chefredakteur der damals größten nichtkommunistischen Zeitung Svobodné slovo (Freies Wort) Ivan Herben, in einer politischen Broschüre der Volkssozialistischen Partei, „sondern der Nazionalismus mit all seiner Schrecklichkeit und Roheit war im deutschen Volke schon lange vor Hitler verwurzelt. Die Aufgabe Hitlers bestand nur darin durch seine politische Lehre, durch die Methoden der politischen Agitation und des politischen Kampfes alle dunklen Triebe der Unmenschlichkeit zu befreien, die im deutschen Menschen schon längst vorhanden waren... Es gibt keine guten Deutschen, sondern nur schlechte und noch schlimmere... Einjeder Deutsche ist vor allem Imperialist und Sklavenhalter... Ein tschechischer Vater, der sein Kind nicht zum Hass der deutschen Pseudokultur und der deutschen Unmenschlichkeit erzieht, ist nicht nur ein schlechter Patriot, sondern auch ein schlechter Vater...“ Und ein Kommentator der prominenten tschechischen - auch nichtkommunistischen - Zeitschrift Dnešek (das Heute) spricht über eine „allgemeine Orientierung der deutschen Seele gegen alle positive Werte der Menschlichkeit (wie Wahrheit, Recht, Ehre, Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit) nach denen das tschechische Volk so eifrig strebt. Der deutsche Nazionalismus und der deutsche Faschismus, diese Sünden gegen die Menschlichkeit, sind kein Produkt des kranken Gehirns des entlaufenen Tapezierers Hitler: sie sind nur einige der Äußerungen eines und desselben ewigen deutschen Geistes, mit dem unser Volk schon von Anfang an seiner Geschichte zu kämpfen hat. Es ist nicht nur der Kampf um die eigene Nationalität und den von den Vätern geerbten Boden, sondern der Kampf um jene allmenschlichen Werte, der beide Völker in dieser Weise gegenübergestellt hat.“ Im Hintergrund dieser hasserfüllten Äußerungen steht jedoch ein ganz pragmatisches Kalkül: diese historische Situation ist eine einzigartige Gelegenheit dazu, den deutschen Ballast loszuwerden. Wir müssen sie nutzen.“

Ebenso traurig ist die Art und Weise in der man damals (z.B. in Dnešek) die slowakische Frage behandelt hat. Die ursprüngliche Ideologie der gemeinsamen tschecho-slowakischen Nation war nach dem slowakischen Aufstand 1944 unhaltbar geworden. Daraufhin mussten die tschechischen nationalistischen Nichtkommunisten schweren Herzens resignieren. Die verletzten Seelen der tschechischen nationalistischen Politiker haben eine Ideologie entwickelt, nach der auf tschechischer Seite Hilfsbereitschaft, Offenheit und Toleranz, demgegenüber auf slowakischer Seite ein tiefer Undank die tschecho-slowakischen Beziehungen kennzeichnet. Diese Beziehungen seien danach durch etliche slowakische Verrate geprägt, welche die Tschechen dank ihrer Großmütigkeit den Slowaken immer verziehen haben. Im Schatten dieses ideologischen Ballastes wurde daraufhin die slowakische Autonomie durch den sogenannten dritten Prager Vertrag wesentlich beschränkt. Dies bedeutete die Lähmung der stärksten nichtkommunistischen slowakischen Partei, der Demokratischen Partei – die tschechischen nicht-kommunistischen Parteien haben dabei den Kommunisten eifrig assistiert. Diese selbstmörderische Aktivität der tschechischen Nicht-kommunisten führte wie zu erwarten im Februar 1948 auch zur definitiven Liquidierung der tschechischen Demokratie.

Nur nebenbei möchte ich erwähnen, daß in den Jahren 1945-7 zudem zwischen Tschechien und Polen heftig um die südliche Seite des Tetschener Gebietes gestritten wurde. Dieses gehörte vor dem zweiten Weltkrieg zur CSR, obwohl der nördliche Teil vorwiegend von Polen bewohnt war. Mit Hilfe Stalins ist es den Tschechen schließlich gelungen, die Vorkriegsgrenze zu erneuern. Ein gutes Zeugnis der damaligen durch die tschechischen Medien entfalteten tschechischen Propaganda liefert diese Äußerung des damaligen kommunistischen Ideologen (und zugleich des „Informationsministers“) Václav Kopecký: „Die tschechische Seite darf gegenüber Polen nicht chauvinistisch auftreten, vor allem darf sie nicht vergessen, daß es sich hier um Slawen handelt, obwohl diese sehr anspruchsvolle, ja sogar freche Forderungen stellen...“

Ich gebe zu, daß dieses Bild der Reflexion der tschechischen nachbarschaftlichen Beziehungen in gewissem Sinne „überexponiert“ ist, da es sich nämlich aussschließlich mit den Krisenperioden der modernen tschechischen Geschichte befasst. Es gab in der tschechischen Gesellschaft auch Persönlichkeiten, die imstande waren, z. B. die deutsch-tschechischen Beziehungen sachlich und rationell zu betrachten. So hat in den verhältnismäßig ruhigen zwanziger Jahren der hervorragende tschechische Historiker Josef Pekař, übrigens auch ein tschechischer Nationalist, geschrieben: „Es waren vor allem die Deutschen, die uns den Fortschritt, die Vorbilder und die geistigen Richtlinien Europas vermittelt haben… ich will nicht die direkten Verbindungen mit Italien, Frankreich, England usw. vergessen, jedoch hatten die deutsche Vermittlung und die direkten deutschen Einflüsse ein unbestreitbares Übergewicht… Und wenn wir über den deutschen Einfluß als ein Faktor der tschechischen Geschichte sprechen, dann müssen wir zugeben, dass dieser Einfluss nicht nur die Erziehung zum Nationalismus bedeutete… sondern daß er, indem er Europa zu uns brachte, viel Großes und Nützliches in unserer Heimat schuf; er hat unsere Heimat – in Kooperation mit den direkten Einflüssen des übrigen Westeuropas – an höhere Lebensstandards sowohl in der geistigen, als auch in der materiellen Kultur, in den Angelegenheiten des Rechts und der Wirtschaft angepasst… Der Deutsche hat uns zur Nachahmung und zum Wettbewerb aufgefordert, dazu, dass wir mit seinem Fortschritt, seinen Fähigkeiten, seiner Macht und seinem Reichtum gleichziehen… Dass wir zur Zeit wirtschaftlich und industriell, bezüglich der Administrative, der Disziplin und des Arbeitseinsatzes weiter sind als andere östliche Völker, verdanken wir vor allem der deutschen Erziehung…“ Der größte tschechische politische Denker der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, der Kämpfer für die Rechte der „Minderheiten“ in der CSR, Emanuel Rádl, schrieb in seinem berühmten Buch „Der Krieg zwischen den Tschechen und den Deutschen“ folgendes: „Es ist wahr, daß die falsche Theorie Palackýs unseren Blick für die friedlichen Beziehungen zwischen den Tschechen und den Deutschen getrübt hat. Die Deutschen (im Vergleich zu anderen Nationen) haben uns in der Geschichte meistens am besten verstanden und haben uns auch geholfen. Sie waren von Anfang unseres staatlichen Lebens an unsere Nachbarn; die aus dem Westen zu uns gekommene Bildung kam in der Tat aus Deutschland!“ Die allgemein geteilte Angst vor nationaler Bedrohung und die Unsicherheit ließ andere Gedanken aufkommen und stellte hohe Anforderungen an politische Tapferkeit und Nüchternheit. Man muss leider sagen, dass die Tschechen diese jeder Nation gestellten Anforderungen oft nicht erfüllen konnten.

Während des Nachkriegszustandes ist die Diskussion der Tschechen über ihre Nachbarn auf märchenhafte Art und Weise für über vierzig Jahre eingefroren. In dieser Zeit bestand genau genommen auch keine Möglichkeit einer wirklich freien und unvoreingenommenen Reflexion. So ist auch zu erklären warum man diese Diskussion im November 1989 wieder von Neuem aufleben ließ. Das gilt vor allem für die tschechisch-deutschen Beziehungen, die mit der Vertreibung von rund 3 Millionen Deutschen aus den tschechischen Ländern belastet sind. Die tschechisch-polnischen, tschechisch-slowakischen und tschechisch-ungarischen Beziehungen kann man oberflächlich als völlig harmonisch und ruhig bezeichnen - das bedeutet jedoch nicht, daß es in diesen Fällen den Tschechen gelungen ist, die Krisenmomente durch offene Reflexion und direkte Gespräche mit den Betroffenen zu bewältigen. Die Probleme wurden nur ins kollektive Unterbewußtsein verdrängt, wo sie auf einen günstigen Augenblick warten - es handelt sich hier also im Grunde nur um eine gefährliche Zeitbombe.

Anders verhält es sich hinsichtlich des deutschen, bzw. sudetendeutschen Problems. Hier gab es heftige Diskussionen. Außerdem entstand ein intensives tschechisch-deutsches diplomatisches Engagement mit dem klaren Ziel die tschechisch-deutsche Beziehungen vom sudetendeutschen Problem zu trennen.

Die erste politische Garnitur, die noch in der CSFR an die Macht kam, rekrutierte sich auf tschechischer Seite aus dem Umkreis des tschechischen Dissents, einer verhältnismäßig dünnen, von der breiten Gesellschaft isolierten Schicht. Dort fanden sich utopische Idealisten, die sich der praktischen Schwierigkeit der politischen Auseinandersetzung mit der sudetendeutschen Frage nicht klar bewusst waren. Vor allem erkannten sie nicht, wie schwierig es sein würde die tschechische Gesellschaft von der im Grunde richtigen Idee der Wiedergutmachung zu überzeugen. Außerdem gab es auch kommunistische Ideologen und Apparatschiks der 1968er (z.B. Zdeněk Mlynář), kalt kalkulierende Zyniker, die in der Opposition noch guten Willen simulierten, diesen jedoch zu vergessen haben schienen als sie in die aktive Politik zurückkehrten. Dort setzten sie die populistisch-chauvinistische Politik fort, die für die tschechischen Kommunisten immer bezeichnend war. Der damalige tschechoslowakische Präsident Havel (ein Vertreter des nicht-kommunistischen Dissents) sprach sich noch vor seiner Wahl für eine Entschuldigung gegenüber den Sudetendeutschen aus und plädierte in verschiedenen öffentlichen Äußerungen für eine Versöhnung. Die Verurteilung der Vertreibung ließ er damals verhältnismäßig offen: „Sechs Jahre der nazionalsozialistischen Gewaltherrschaft reichten aus, um uns durch den Bazillus des Bösen anstiften zu lassen, um uns während und nach dem Krieg untereinander anzuzeigen, um uns auf einmal - in gerechter, freilich aber übertriebener Weise - das unmoralische Prinzip der Kolektivschuld zu eigen zu machen“, stellte er in seiner Rede anlässlich des Besuches des deutschen Bundespräsidenten von Weizsäcker im März 1990 fest. „Statt einer ordnungsgemäßen gerichtlichen Verhandlung für alle, die ihren Staat verraten haben, haben wir alle aus dem Land vertrieben und ihnen eine Strafe auferlegt, die unsere Rechtsordnung nicht kannte. Dies war keine Strafe, es war Rache. Wir haben sie auch nicht aufgrund individuell erwiesener Schuld vertrieben, sondern als Angehörige einer bestimmten Nation. Im Glauben daran, dass wir der historischen Gerechtigkeit so den Weg bereiten würden, haben wir vielen unschuldigen Menschen, vor allem auch Frauen und Kindern, Leid zugefügt. Wie es im Laufe der Geschichte schon oft geschehen ist, haben wir jedoch nicht nur ihnen Leid angetan, sondern noch mehr uns selber: Indem wir auf diese Weise mit der Totalität abrechneten haben wir der Gefahr einer Empfindlichkeit für utopische Ideologien den Weg in unser Tun und damit auch in unsere Seelen geöffnet. Dies hat sich kurz danach als sehr bitter für uns herausgestellt - wir wurden unfähig einer aus einer anderen Richtung importierten Totalität Widerstand zu leisten.“ Man könnte hier und da Einwände erheben, jedoch war dies damals ein ehrlicher Versuch, die Beziehungen genau zu beschreiben. Die Folge war eine Welle der Empörung in der durch den vierzig Jahre dauernden Schlaf betäubten tschechischen Gesellschaft. Havel und sein Anhänger verließen diesen Standpunkt daraufhin stillschweigend. Anlässlich der Vorbereitung der gemeinsamen tschechisch-deutschen Erklärung 1995 sprach der tschechische Präsident schon ganz anders.

Die „pragmatische“ tschechische Politik von Václav Klaus und Josef Zieleniec versuchte sich eingehend nach den Bedürfnissen und Wünschen des Volkes zu richten und die tschechisch-deutschen Beziehungen zukunftsorientiert zu gestalten. „Der Transfer der Deutschen aus unserem Land nach dem durch Deutschland hervorgerufenen Krieg mit menschlichem Leiden von bisher unbekannten Ausmaß spiegelte die Atmosphäre der damaligen Zeit wider“, schrieb Klaus in einem in der Lidové noviny veröffentlichten Artikel. „Die wiederholten Eingeständnisse beziehungsweise Abweisungen von Schuld auf der einen wie auf der anderen Seite sollten endlich ein Ende finden. Vielmehr sollte man sich heute auf den Charakter der modernen deutsch-tschechischen Beziehungen, auf die breite, schnell wachsende beidseitige Zusammenarbeit und das gemeinsame Interesse an der Schaffung eines neuen Grades von Vertrauen zwischen beiden Ländern konzentrieren.“ In anderen Worten solle man sich also keine ohnehin überflüssigen Sorgen über die Vergangenheit machen und die alten Probleme endlich unter den Teppich kehren.

Die vom damaligen inofiziellen Informationsminister Zieleniec in Gang gesetzte offizielle Pressepropaganda wählte vor der Vorbereitung der tschechisch-deutschen Erklärung sogar noch schärfere Töne. Der Historiker und prominente Publizist der Klaus-Ära Dušan Třeštík schrieb damals, dass Deutschland noch immer „zwischen einem liberalen und aufgeklärtem Westen und einer missinterpretierten nationalen Eigenständigkeit schwankt“, dass die Deutschen die tschechische Republik nicht wie einen souveränen Staat behandelten, dass sie den tschechischen Stolz mit ein Paar DM zu brechen suchten, dass sie die Tschechen für ein Untertanenvolk hielten, dass sie bisher nicht fähig gewesen wären, die Herausforderungen für eine eigenverantwortlichen Großmacht anzunehmen und ihre Beziehungen mit den Nachbarn zu ordnen. Dies war ein primitiver, von Minderwertigkeitskomplexen gezeichneter Präventivangriff gegen eventuelle deutsche Forderungen in Verhandlungen mit den Sudetendeutschen.

Selbstverständlich gibt es in der tschechischen Gesellschaft, insbesondere unter den tschechischen Intelektuellen auch viele, die die Beziehungen zu ihren Nachbarn und dabei auch zu den Deutschen und zu Deutschland anders begreifen und die tschechischen Fehler oder in manchen Fällen auch Verbrechen der Vergangenheit nicht übersehen. Auf praktisch politischer Ebene billigte die tschechische Seite zwar die gemeinsame tschechisch-deutsche Erklärung, interpretierte diese jedoch in einem wesentlichen Punkt anders als die Deutschen: Aus Sicht der Tschechen enthält die Erklärung das Bedauern der „Exzesse“ während der Vertreibung der Sudetendeustchen (unter Exzessen versteht man in der CR die damals verübten Massenmorde). Die deutsche Seite meint dagegen, dass die Vertreibung als solche verurteilt wurde. Die tschechische Politik erhielt in der Zeit der Verhandlungen offene Unterstützung von Seiten der USA und Großbritannien, die ihre Mitschuld an den Massenvertreibungen in Mitteleutopa noch nicht anerkannt haben. Dies ist leider eine völlig unverantwortliche Politik, die die Heilung der auf diesem Gebiet immer noch existierenden Wunden verhindert.

Was sind nun die Schlussfolgerungen aus dem bisher Gesagten für die Integration der Tschechischen Republik in Europa und in die EU? Es sollte klar geworden sein, dass man in dieser Hinsicht einen labilen, nicht in jedem Sinne erwachsenen Partner aufnimmt. Das sollte aber kein Grund für die Verzögerung oder sogar Ablehnung der Aufnahme sein– ohne eine verlässliche, sichere und kultivierte Umgebung ist eine weitere Reifung dieses Staates und seiner Gesellschaft unvorstellbar. Die politisch und moralisch stabile europäische Umgebung kann den Tschechen bei der notwendigen Bewältigung ihrer Vergangenheit sogar wesentlich helfen. Europa sollte jedenfalls wissen, dass mit der Aufnahme der CR auch Probleme entstehen, die es zu bewältigen gilt.

Vorgetragen an der Technischen Universität Chemnitz 1998