Brief an Abgeordnete des Europäischen Parlaments

Geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Europäischen Parlaments!

In diesem Jahr sind sechzig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verstrichen. Die Hauptschuldigen an diesem Krieg sind tot, und die Kriegsteilnehmer stehen, sofern sie noch leben, in hohem Alter. Dennoch ist dieser Krieg noch immer eine offene und schmerzende Wunde. Er hat das Denken der Menschen verwüstet, die Erinnerung an ihn erzeugt Haß und führt zu Rückfällen in den Nationalismus. Die Welt und insbesondere Europa werden im Denken der Menschen weiterhin in Sieger und Besiegte eingeteilt. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als lebe man immer noch in den ersten Monaten nach Kriegsende.

Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Der Krieg wurde von denen, die ihn ausgelöst haben, mit einer Brutalität und Hinterhältigkeit geführt, die beispiellos war. In Hinblick auf die Entwicklung der internationalen Lage wurde kein Friedensvertrag mit Deutschland geschlossen, dem wichtigsten besiegten Land. Stattdessen kam es zum Kalten Krieg, zur sowjetischen Besetzung Osteuropas und zu kommunistischen Diktaturen in einer Reihe von Ländern, was auf viele Jahre hinaus ein Nachdenken in Freiheit und einen grundsätzlichen und sachlichen Dialog zwischen den früheren Feinden verhindert hat.

Wenn heute zwar ein allgemeiner Konsens über die verbrecherische Natur des Hitlerregimes und seines Kriegsabenteuers herrscht, ist man sich doch nicht ausreichend der Tatsache bewußt, daß sich auch die siegreiche Seite gelegentlich zu Handlungen hinreißen ließ, die es verdienen, verurteilt zu werden. Es ist nötig, das einzubekennen, weil diese Handlungen Leid und Tod über viele Menschen gebracht haben. Dies anzuerkennen ändert grundsätzlich nichts an der Beurteilung des Krieges, die nazistischen Verbrechen werden dadurch weder gemindert noch bagatellisiert. Sechzig Jahre nach Kriegsende sollte sich bei den Europäern das Bewußtsein festigen, daß Europa heute eine allseitig gleichberechtigte Gemeinschaft der Staaten und Völker ist, von denen keines die unmittelbare Verantwortung für die Taten der Vorfahren trägt, und daß die Schuld an der Vergangenheit endgültig der Vergangenheit angehört.

Wir ersuchen Sie, den bevorstehenden Jahrestag des Kriegsendes für praktische Schritte zu nützen, die dieses Kapitel der europäischen Geschichte und der Weltgeschichte im Geiste der Gerechtigkeit und der Versöhnung beschließen.

4. April 2005

Unterschriften

  
Zdeněk Bárta Senator des tschechischen Parlaments
Dr. Erhard Busek ehemaliger österreichischer Vizekanzler, Vorsitzender des Institutes für Donauraum und Mitteleuropa
Pavel Černý Vorsitzender des Rates der Bruderkirche und Vorsitzender des Ökumenischen Rates der Kirchen in der CR
Tamás Deutsch Minister a. D., Vizepräsident des ungarischen Parlaments
Viktor Dobal Soziologe, ehemaliger Abgeordneter des tchechischen Parlaments
Bohumil Doležal Politologe und Publizist, CR
Dan Drápal Publizist, ehemaliger Vorsitzender der Christlichen Gemeinschaften, CR
Dr. Caspar Einem Minister a. D., Abgeordneter des Nationalrates, Österreich
Táňa Fischerová Abgeordnete des tschechischen Parlaments
Dipl-ing. Franz Fischler ehemaliger Komissar der EU
Prof. Tomáš Halík Präsident der Tschechischen Christlichen Akademie, Universitëtsprofessor, Priester
Zbyněk Hejda Dichter, CR
Daniel Herman Sprecher der Tschechischen Bischofskonferenz
Prof. Josef Jařab Senator des tschechischen Parlamentes, Vorsitzender des medialen Ausschusses des Europarates
Svatopluk Karásek Abgeordneter des tschechischen Parlaments
Jan Kasl Vorsitzender der Partei der Europäischen Demokraten, CR
Prof. Albrecht Konecny Internationaler Sekretär der SPÖ, Vorsitzender des Klubs der SPÖ im Nationalrat
Daniel Kvasnička Priester der tschechischen Bruderkirche
Václav Malý Weihbischof von Prag, CR
Emanuel Mandler Historiker, CR
Zsolt Németh ehemaliger Staatssekretär im ungarischen Außenministerium, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses im Ungarischen Parlament
Edvard Outrata Senator des tschechischen Parlaments
Aureliusz Marek Pędziwol Journalist, Polen
Jiří Pehe Politologe und Publizist, ehemaliger Chefberater des tschechischen Präsidenten Václav Havel
Dr. Friedbert Pflüger Außenpolitischer Sprecher der Fraktion CDU/CSU im Deutschen Bundestag
M.A. Barbara Prammer Erste Vizepräsidentin des Nationalrates, Österreich
Jan Ruml ehemaliger Innenminister und ehemaliger Vizepräsident des Senats im Parlament der CR
Dr. Christoph Kardinal Schönborn Wiener Erzbischof, Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz
Pavel Smetana ehemaliger Synodesenior der Evangelischen Kirche der tschechischen Brüder
Prof. Jan Sokol Dekan der Fakultät der Humanitätsstudien der Karlsuniversität, Minister a. D.
Erika Steinbach Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Abgeordnete des Deutschen Bundestages
Pavel Šafr Chefredakteur der Zeitung Mladá fronta Dnes, CR
Univ. Prof. Dr. Arnold Suppan Direktor des Institutes für Geschichte Osteuroopas an der Universität Wien, Vorsitzender des historischen Ausschusses der österreichischen Akademie der Wissenschaften
Dr.h.c. Imre Szebik Bischof – Vorsitzender der Evangelischen Kirche in Ungarn
Vladislav Volný Bischof der Schlesischen Evangelischen Kirche, CR
Vítězslav Vurst Direktor der Stiftung Adra, CR
Prof. Jiří Zlatuška Senator im tschechischen Parlament